TEXTE
Rita Kersting, 1997
Bühne der verkörperten Begegnung
Die Waage ist ein recht unbarmherziges Instrument, das nichts weiter tut
als eine Zahl zu zeigen, die das Gewicht unseres Körpers angibt. Es ist
eine anonyme, jedoch spezifische, eine objektive, jedoch individuelle
Ziffer,die uns erschreckt oder erfreut, abhängig von den Erwartungen und
vorangegangenen Maßhaltungen, mit denen wir die Waage besteigen. Oft
jedoch hinterläßt die Selbstbegegnung mit dieser abstrakten Zahl,
ähnlich wie beim Lesen der persönlichen Paßnummer, eine Leere, eine
innere Gleichgültigkeit. Sie bestätigt unsere Existenz, teilt uns aber
über uns selbst nichts mit.
Ulrike Kessl hat in Rheine eine Waage auf dem `Thie´ platziert, die
dreißig Jahre lang in einer Textilfabrik Garnspulen auswog. Dieser
Funktion enthoben erhält die Waage im Ausmusterungsalter an öffentlichem
Ort eine neue, die Kessl ermöglicht, aber nicht ausformuliert. Die
große Wiegefläche ist bündig in den Boden eingelassen, so daß keine
Hemmschwelle die Bummelnden von der Benutzung des Kunstwerks abhält, das
sich auf den ersten Blick ästhetisch von den platzgestaltenden
Schildern, Baumgittern und Laternen nicht unterscheidet, gleichwohl bei
näherer Betrachtung einen deplatzierten und leicht absurden Eindruck
macht. Dabei greift Ulrike Kessl mit der Waage auf ein traditionell von
öffentlicher und nicht von Künstlerhand aufgestelltes Instrument zurück,
das öffentliche Plätze seit dem Mittelalter als Orte des Handels
kennzeichnete.
Nicht als allansichtige, materialschwere und `schöne´Skulptur ist die ”
Statt-Waage” allein zu betrachten, sondern als Werkzeug, dessen Funktion
erst beim Betreten aktiviert wird. Eine theatrale Dimension bereichert
somit das keineswegs nur autonome Kunststück, das als Intervention das
Augenmerk auf die örtliche Situation und die Rezipienten lenkt.
Mit der Verlagerung der privaten, normalerweise in der Intimität des
eigenen Badezimmers stattfindenden Handlung auf den Rheiner `Thie´ wird
die Wiegefläche zur Bühne, die einen grenzenlosen Übergang von
Zuschauer, Benutzer und Kunstwerk gewährleistet. Die individuelle
Körperkontrolle gerät so zum kollektiven Ereignis, die private Handlung
zur öffentlichen Aufführung.
In unserer Zeit, in der sich Plätze von Nachbarschaftstreffpunkten zu
Parkplätzen, Einkaufszonen oder Verkehrsknotenpunkten entwickeln und
sich das Leben hinter die Fensterrolläden, vor den Fernseher
zurückzieht, erfährt der öffentliche Raum eine tiefe Krise. Mit
zunehmender Isolierung und der Möglichkeit per Telefon, Fax und E-mail
körperlos in Kontakt zur Außenwelt zu treten, verwaisen öffentliche
Plätze oder werden zur Heimstatt von verschiedenen Randgruppen unserer
Gesellschaft. Den Überraschungen und unvorhergesehenen Begegnungen, die
auf öffentlichen Plätzen erlebt werden können, entziehen sich die
Menschen immer häufiger durch Abwesenheit. Kessls “Statt-waage” erinnert
an unseren Körper sowohl durch ihre anthropomorphe Gestalt als auch
durch das Wiegen desselben. Begegnungen mit sich selbst und mit anderen
sind auf ihr möglich, dabei bildet der Körper als Materie eine Prämisse,
die in Zeiten zunehmender Immaterialität nicht selbstverständlich.
Rita Kersting