ULRIKE KESSL
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«Es passieren eigentlich immer unvorhergesehene Sachen»
Ein Gespräch zwischen Ulrike Kessl (U.K.) und Necmi Sönmez (N.S.), 2003

[su_quote style=“default“ cite=““ url=““ class=““]VERSTECKTES KIND: Es kennt in der Wohnung schon alle Verstecke und kehrt darein wie in ein Haus zurück, wo man sicher ist, alles beim alten zu finden. Ihm klopft das Herz, es hält seinen Atem an. Hier ist es in die Stoffwelt eingeschlossen. Sie wird ihm ungeheuer deutlich, kommt ihm sprachlos nah. So wird erst einer, den man aufhängt, inne, was Strick und Holz sind. Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind. Und hinter einer Türe ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten. Um keinen Preis darf es gefunden werden.[/su_quote]

Zitat: Walter Benjamin, Einbahnstraße, Frankfurt a.M. 1997, 13 Auflage, S. 59 f. 



Ulrike Kessls Installationsprojekt “Arbeiten für ein verstecktes Kind” im Ausstellungsraum des RWE-Turms in Essen umfaßt fünf Arbeiten, die neue Aspekte im Werk der Künstlerin thematisieren. Da Kessl ihr Projekt aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den architektonischen Gegebenheiten des Turmes entwickelte und der Zeitplan sehr eng gesteckt war, war die Zusammenarbeit für alle Beteiligten dieser Ausstellung im wahrsten Sinne ein “work in progress”. Immer wieder ergaben sich Veränderungen während der Vorbereitungen. Unsere Entscheidung, diesen Veränderungsprozess auch in der Ausstellung zu thematisieren, führte zu folgendem Gespräch, das wir am 1. Mai 2001 im Atelier der Künstlerin in Düsseldorf führten:


Necmi Sönmez: Du hast oft Arbeiten realisiert, die über die autonome Skulptur hinausgehen und mit dem Betrachter eine Interaktion anstreben. Kann man dein neues Installationsprojekt, das speziell für den RWE-Turm in Essen entwickelt wurde, auch in diesem Kontext sehen?

Ulrike Kessl: Ja, die Skulpturen sind so gedacht, dass sie mit dem Besucher eine Interaktion eingehen können, aber nicht unbedingt müssen.

N. S.: Es ist notwendig, zu definieren, weshalb Interaktion für dich als künstlerische Strategie wichtig ist.

U. K.: Zum einen ist es natürlich ein Wesensmerkmal der Installation, dass der Betrachter stärker in die Arbeit einbezogen wird als dies bei einem Bild oder einer Skulptur der Fall ist. Er ist von der Installation ganz oder teilweise umgeben. Sie besetzt sozusagen den Raum. Zum anderen ist mir der direkte, körperliche Kontakt zwischen Betrachter und Kunst wichtig.

N. S.: Wann oder mit welcher Arbeit fing diese Interaktion an?

U. K.: Einige meiner ganz frühen Arbeiten, die während des Studiums entstanden, sind im Grunde schon so konzipiert. 1983 habe ich in einem sehr langen, schmalen Flur in der Akademie direkt unter der Decke Fäden im Abstand von 10 cm gespannt und Zeitungspapier darüber gehängt. Wenn jemand durch den Flur hindurchging, bewegte sich das Zeitungspapier wie eine Welle hinter ihm her.

N. S.: Aber wann hast du zum ersten Mal den Ausstellungsraum in den Kontext einbezogen?

U. K.: Das fing eigentlich mit den großen Stoffarbeiten an. Die erste habe ich 1993 im Dominikanermuseum in Rottweil realisiert. Es war eine Art Zelt und mir fiel auf, dass sehr viele Besucher, vor allem Kinder, fragten, ob man es betreten darf. Ein Jahr später habe ich in der Hawerkamphalle in Münster darauf reagiert. Ich gestaltete die Arbeit “Treppenhaus” so, dass man sie benutzen konnte. Die Installation war im Erdgeschoss begehbar.

N. S.: Interaktion als künstlerische Strategie in eine Arbeit einzubeziehen, heißt ja auch, eine gewisse Herausforderung an den Rezipienten zu stellen, so dass er erst nach dem Akzeptieren dieser Herausforderung beginnen kann, die Arbeit richtig zu interpretieren oder zu verstehen.

U. K.: Aber das heisst nicht zwangsläufig, dass jemand, der sich nicht auf die konkrete Interaktion einlässt, eine Arbeit deshalb nicht verstehen kann. Meine Arbeiten funktionieren auch, wenn sie nicht benutzt werden, dann allerdings auf andere Weise.

N. S.: Deine Arbeiten haben auch einen hohen ästhetischen und sehr poetischen Anreiz. Dieser kann sich auch wie bei einer autonomen Skulptur entfalten. Aber manche deiner Installationen im Raum machen sich deutlicher bemerkbar, wenn man mit ihnen eine Interaktion eingeht. Wenn ich über deine Werkentwicklung nachdenke, fällt mir auf, dass du deine Arbeit immer wieder innerhalb zweier Pole gestaltest. Zum einen den Wunsch nach Interaktion, die Einladung zu einer Beteiligung durch den Betrachter. Der zweite Pol ist eine hohe ästhetische, sehr sinnliche Materialität, die bei deinen Stoffinstallationen präsent ist und die den Rezipienten mitunter provoziert. Für mich wäre es interessant zu erfahren, wie du bei einer Arbeit entscheidest, welchen Pol du in den Vordergrund stellst und welcher dann in den Hintergrund tritt. Oder machst Du diesen Unterschied überhaupt nicht?

U. K.: Eigentlich mache ich diesen Unterschied nicht. Ausgangspunkt ist immer eine Idee. Erst danach kommt die Frage: wie setze ich um, was ich im Kopf habe? In dieser Phase denke ich auch über die möglichen Reaktionen der Betrachter nach, wobei es schwer ist, diese im Einzelnen vorherzusehen. Der Ausstellungsraum, sein Kontext und die Bewegung der Menschen im Raum spielen in dem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Der Architekt lenkt und führt den Besucher – ich greife dann nochmals auf meine Weise ein.

Ein Beispiel: auf der Kunstmesse Art Cologne habe ich 1996 eine Installation gezeigt, die aus 260, zu einem Feld zusammengefügten Personenwaagen bestand. Ich wollte, dass die Besucher sich auf den Waagen bewegen und sich dabei wiegen. Da die Anordnung der Wände noch nicht feststand, konnte ich eine Durchgangssituation schaffen, die die Besucher praktisch in die Arbeit hineinzog. Das war natürlich eine ganz spezielle Situation, denn normalerweise ist der Raum ja vorgegeben, aber das Beispiel zeigt, wie wichtig das Zusammenspiel von Architektur und Installation ist. Bis zur Eröffnung einer Ausstellung weiß ich oft nicht, ob meine Idee funktioniert, ob die Besucher so reagieren, wie ich es mir vorstelle. Es ist wie bei einer spontanen Performance, es passiert immer etwas Unvorhergesehenes. Für mich ist das Überraschungsmoment äußerst wichtig, ich leite davon immer etwas für die nächsten Arbeiten ab. Ich denke aber doch, dass ich so weit vorausplanen kann, dass die Interaktion auch funktioniert – bisher hat es jedenfalls immer geklappt.

N. S.: Ich habe oft in deine Skizzenbücher und Notizbücher geschaut. Man sieht deutlich, dass du schon früh anfängst, über einen interaktiven Aspekt in deiner Arbeit nachzudenken. Dann machst du ganz genaue Zeichnungen, wie du dir die Interaktion konkret vorstellst. Schließlich gibt man dir die Möglichkeit, deine Vorstellungen auch in Installationen umzusetzen; mich interessiert diese Transformation. Wie überträgst du deine Ideen, deine Skizzen auf den Raum? Inwieweit ist für dich diese Transformation von einer Skizze zu einer interaktiven Arbeit von der Situation im Raum abhängig?

U. K.: Das bedingt sich immer gegenseitig. Es ist sehr selten, dass ich eine Idee habe, und dann kommt der Raum dazu und Peng! das klappt. Meistens ist es so, dass Ideen existieren, in Form von Skizzen oder Notizen, die durch die Situation im Raum transformiert werden. Das ist ein Prozess, der hin und her geht. Zum Beispiel hatte ich schon vor längerer Zeit eine Notiz gemacht: zwei Matratzen in Form von Gehirn und Verdauungssystem. Daraus sind jetzt die Sitzlandschaft und der Laufstall geworden. Das ist einfach die künstlerische Arbeit, die dann noch stattfindet.

N. S.: Der Ausstellungsraum spielt also bei deinen Arbeiten von Anfang an eine sehr wichtige Rolle, weil deine Installationen sehr oft auf die Gegebenheiten des Raumes eingehen; in Essen findet die Ausstellung im RWE-Turm in einem sehr markanten und schwierigen architektonischen Rahmen statt. Ist die Architektur des Raumes in diesem Sinne für dich eine Herausforderung? Und wie waren deine Gefühle oder Gedanken, nachdem wir die Räume das erste Mal zusammen besichtigt haben?

U. K.: Ja, das war auf jeden Fall eine Herausforderung für mich. Der allererste Eindruck war: gigantisch; eine monumentale Selbstdarstellung der Architektur, ein Turm, der auf Stelzen steht; die Pfeiler tragen die ganze Last, die Wände sind im Prinzip nur eine Haut. Hier wird demonstriert: schaut her, was die Technik heute kann. Die Architektur präsentiert sich mit der Eleganz und Coolness, mit der ein Unternehmen wie RWE in der Öffentlichkeit erscheinen möchte. Die räumliche Struktur, die Form des Raumes, ist natürlich auch sehr ungewöhnlich. Was mich aber vor allem interessierte, war die Situation in der Empfangshalle. Mir fiel beim ersten Besuch auf, dass die Leute den eigentlichen Ausstellungsraum gar nicht nutzen, sondern hereinkommen, zum Empfang gehen und dann direkt auf den Aufzug zugehen; dass der halbe Raum des Erdgeschosses ziemlich undefiniert ist. Man sieht dort zwar ab und zu jemanden auf einem Sofa sitzen, aber eigentlich passiert da nichts. Im Grunde wird der halbe Raum nur als Durchgang genutzt. Das wollte ich mit meiner Arbeit durchbrechen.

N. S.: Als ich deine Skizzen sah, wurde mir klar, dass du hier nicht mit der Architektur in Konkurrenz treten wolltest. Ich erkannte anhand deiner Konzepte eher einen Dialog mit der Architektur, weil du diese auf fünf verschiedene Werkgruppen im Raum verteilt hast, die sowohl nach innen als auch nach außen gerückt sind. Kann man da von einer kongenialen Ergänzung sprechen? Du fügst der Architektur hinzu, was sie nicht hat und umgekehrt erhält deine Arbeit von der Architektur etwas.

U. K.: Ja, das kann man so sehen. Ich will nicht in Konkurrenz zur Architektur treten, denn ich denke, das macht keinen Sinn.

N. S.: Bei der vierten Arbeit, der “Zelle”, die für den Außenraum gedacht ist, hast du das letzte Mal ausdrücklich den Wunsch geäußert, deiner Arbeit auf jeden Fall eine Anbindung an die Architektur zu geben. Je mehr Einblick ich in deine Skizzen bekam, je mehr ich darüber reflektierte, desto stärker wurde mir klar, dass ein sehr harmonischer Dialog zustande gekommen ist. Jede Position, die der Architektur und die des Kunstwerks, behält dabei ihre Definition von Zweck und Ästhetik. Es geht meiner Ansicht nach deutlich daraus hervor, dass du für deine Arbeit diesen schwierigen architektonischen Rahmen als Reflexionsfläche nutzt.

U. K.: Diese Formulierung finde ich sehr gut.

N. S.: Für mich ist die Eingangshalle des RWE-Turms auch der Ort der Begegnung, wo MitarbeiterInnen dem Gast begegnen. Wenn ich an deine Arbeiten – vom Kinderlaufstall bis zum Teppich im untersten Geschoss – denke, wird deutlich, dass du eben diesen Ort der Begegnung als Hintergrund für dein Projekt ausgewählt hast.

U. K.: Auf jeden Fall. Ich beziehe meine Ideen oft aus dem Kontext des Raumes oder der Situation des Ortes. Bei diesem Projekt ist es die Situation einer Empfangshalle eines großen Konzerns, der hier auch seine Verwaltungszentrale hat. Die inneren Organe kann man ja auch so sehen, dass die Verwaltungszentrale eine Art inneres Organ des Konzerns darstellt. Da passieren Dinge, die nicht nach außen in die Öffentlichkeit dringen, die aber den ganzen Organismus am Leben erhalten.

N. S.: Du siehst diesen Konzern mit all seinen Mitarbeitern und Angestellten wie einen “Körper”, einen Organismus, der, wie der menschliche, mittels seiner Organe arbeitet. Diese inneren Organe, die vielleicht auf den ersten Blick mit der Arbeit, die dort gemacht wird, nicht sehr viel zu tun haben, geben durch die Transformation, die sie durch deine Installation erfahren, dem Ganzen eine andere Präsenz. Wenn ich an deine Arbeit “Laufstall” denke, dessen Form ja an die eines Gehirns erinnert, kann ich mir vorstellen, warum du diese Arbeit hier präsentierst. Aber warum zeigst du an dieser Stelle die “Verdauungsorgane”?

U. K.: Ich habe lange nach einem “passenden” Organ als Ergänzung zum Gehirn gesucht, das als Objekt von Anfang an feststand. Herz und Lunge schienen mir kein gutes Gegengewicht zu sein, der Magen allein wäre mir zu einseitig. Dann bin ich auf den Verdauungstrakt gekommen, ohne das zunächst begründen zu können. Beide, Gehirn und Verdauungstrakt, produzieren etwas, mit dem Unterschied, dass das eine Produkt gesellschaftlich hoch anerkannt ist, das andere tabuisiert. Nur Kinder, die gesellschaftliche und kulturelle Normen noch nicht kennen, machen diesen Unterschied nicht. Auf formaler Ebene gibt es überraschend viele Ähnlichkeiten: die endlosen Windungen im Gehirn wiederholen sich gewissermaßen im Darm. Das sind meterlange Stränge, die sich da auf engem Raum zusammenwinden. Während jedoch im Gehirn, vereinfacht gesagt, “die Gedanken” als chemische Prozesse ablaufen und komplizierte, verschlungene Wege nehmen, geschieht dasselbe im Verdauungstrakt auf konkreterer, stofflicher Ebene. Es gibt übrigens Wissenschaftler, die den Darm als “zweites Gehirn” bezeichnen und zwar deshalb, weil der Darm sehr komplexe Funktionen unabhängig vom Gehirn ausübt.

N. S.: Ich würde nun gerne auf die Stofflichkeit deiner Arbeiten eingehen. Sie wird ja durch deine Installationen im RWE-Turm in all ihren Facetten verdeutlicht. Die Palette der verwendeten Materialien reicht von Schaumstoff über Holz bis zu Seilen. Vor allem aber verwendest du Textilien. Gibt es Kriterien, nach denen du Textilien und Stoffe auswählst? Woher kommt diese leitmotivartige Erscheinung von Textilien in deiner Arbeit? Ist es eine leichter formbare Materie?

U. K.: Es geht ja nicht so sehr darum, ob ein Material leichter zu verarbeiten oder zu formen ist, sondern ob es das richtige ist, in Bezug auf die Vorstellung, die man von der Arbeit hat, auch in Bezug auf den Ausstellungsraum. Ich habe die Farben und Muster danach ausgesucht, wobei ich sagen muss, dass ich zum ersten Mal gemusterte Stoffe in dieser Größenordnung verwende.

N. S.: Wobei du früher immer monochrome Stoffe verwendet hast.

U. K.: Ich habe sonst immer einfarbige Stoffe benutzt und eigentlich auch meistens Weiß oder Rot.

N. S.: Hat das vielleicht etwas damit zu tun, dass du jetzt ein Kind hast, und mit diesen “babytypischen” Farben und Stoffen in letzter Zeit öfter in Berührung gekommen bist?

U. K.: Vielleicht ja. Es ist immer schwer zu entscheiden, wie solche Ideen zustande kommen. Ich wollte vor allem der strengen Atmosphäre und der reduzierten Farbigkeit des Raumes etwas entgegensetzen. Die Konzeption meiner Ausstellung arbeitet ja stark mit Gegensätzen in Bezug auf Farben, Formen und auch auf Themen. Ich denke auch, es spielt eine humorvolle Komponente hinein, jedenfalls kann man die bunten Muster der Stoffe so interpretieren. Allerdings ist für mich der Begriff “Textilkunst” ziemlich negativ besetzt. Stoffe interessieren mich eigentlich nur in großen Mengen, als große Flächen. Meine bisherigen Stoffarbeiten sind ja im Grunde Architekturen; Räume aus Stoff.

N. S.: Aber diese waren bisher bewusst in monochromen Stoffarben gehalten, entweder Weiß oder erdfarben, Dunkelgrün oder ähnliches, also primär zurückhaltende Farben. Wir arbeiteten auch anläßlich der Ausstellung „Skulpturale Ideen“ zusammen. Ich denke, dort hat der farbige Stoff zum ersten Mal bei deiner Arbeit eine andere als die in der “Textilkunst” übliche Stellung eingenommen. Die von dir ausgewählten Textilfarben lösen starke Gefühle aus; wenn sie Rot sind, erzeugen sie Wärme oder Energie und es entsteht eine Art emotionaler Fläche. Bei der Arbeit “Vorhänge des Vergessens” zum Beispiel konnte man das Rot in zweierlei Beziehung sehen: zum Einen als die Farbe des Blutes und zum Anderen als die Farbe des Gehirns, welches ja auch solch ein Weiß-Rot hat. Diese Symbolik der Farben spielt in deiner Arbeit eine grosse Rolle, denn du setzt sie dort stets, bedingt durch den Kontext der Arbeit, auf einer anderen Ebene ein.

U. K.: Natürlich gibt es eine emotionale Komponente bei der Farbe. Bisher habe ich mich da auf relativ neutralem Boden bewegt, indem ich oft weiße oder naturfarbene Stoffe benutzt habe, die sich der Architektur anpassen und keine starke Eigenfarbigkeit hereinbringen. Farbe bringt immer eine zusätzliche Ebene hinein. Speziell bei Stoffen kommen schnell Assoziationen auf: Babymode in rosa und hellblau ist nur ein Beispiel. Modische Aspekte sind auch wichtig, das fängt ja schon beim Angebot der Stoffe an. Ich will das Material, mit dem ich arbeite, bewältigen. Es soll nicht von meiner Idee ablenken, sondern eine neue Einheit bilden. Die Wahl der Farben und der Stoffe hat auch mit der Thematik der Organe zu tun. Verglichen mit den früheren genähten Räumen, kommen die Themen jetzt mehr aus dem Körperzusammenhang. Da sind ja schon Bilder da, Farben und Formen, Assoziationen, die ich nicht einfach übernehmen, sondern selbst gestalten will. Aber das, was schon beim Betrachter im Kopf vorhanden ist, muss ich auch einbeziehen.

N. S.:Du willst anhand dieser mehrteiligen Werkgruppe dem Betrachter verschiedene Seh- und Interpretationsweisen näherbringen. Die Arbeiten des Installationsprojektes entziehen sich der zentralen Perspektive, dem “normalen” Sehen. Ich denke hierbei z.B. an die Arbeit an der Decke, bei welcher du durch die Positionierung eines Seils sehr hoch oberhalb des Bodens den Blick des Betrachters in die Höhe und ihn selbst in die Perspektivhaltung eines Frosches zwingst. Oder ein anderes Beispiel, der “Teppich”: man nimmt ihn unter Umständen erst dann wahr, wenn man ganz nah an ihm oder direkt auf ihm steht. Meiner Ansicht nach sind diese Seherfahrungen ein wichtiger Aspekt bei deiner künstlerischen Untersuchung des Raumes, denn deine Arbeit durchbricht das Sehspektrum des durchschnittlichen Besuchers und geht darüber hinaus. Zwar bietet die Architektur einen gewissen Rahmen, aber deine Werke vermitteln durch die veränderte Betrachtungsposition ein anderes, schwer beschreibbares Seherlebnis.

U. K.: Ja, das ist natürlich auch meine Absicht. Die Architektur und den Raum in anderer Weise fortzuführen, so dass man bewußt nach oben sieht und eine Verbindung zieht vom vorderen Bereich über die Schleuse in der Mitte in den hinteren Bereich. Meine Arbeit soll die beiden Bereiche miteinander verbinden und die Isolierung des “Ausstellungstraktes” durchbrechen. Es ist eine Arbeit, die eine Verbindungsfunktion hat, auch nach außerhalb, wenn man die Linie gedanklich weiterziehen würde. Den Teppich werde ich so platzieren, dass man ihn auch von oben sieht, dann entsteht eine Verbindung nach unten in die Vertikale.
Noch einmal zu Deiner Frage, ob die Arbeiten auch einzeln oder nur in der Gruppe funktionieren: man kann sie zwar unabhängig voneinander sehen, aber im Zusammenhang ergeben sich noch zusätzliche Aspekte. Der Laufstall als Hirn und die Sitzlandschaft in Form des Verdauungstraktes beziehen sich zum Beispiel aufeinander. Den Verdauungstrakt würde man ja spontan eher den Kleinkindern zuordnen, das Gehirn den Erwachsenen. In meinen Arbeiten ist es aber genau umgekehrt.

N. S.: Das ist eine interessante Interpretation, denn kleine Kinder tragen die Idee der Zukunft mit sich.

U. K.: Es gibt verschiedene Erklärungsmuster; gerade bei Kindern ist das Gehirn besonders leistungsfähig, nie wieder später im Leben lernen sie so schnell. Das macht natürlich auch Sinn, aber es gibt diese Überkreuzbeziehung auch in dieser Konstellation bei den Arbeiten mit der Sitzlandschaft und dem Laufstall. Insgesamt würde ich sagen, dass die Arbeiten alle auch autonom, als einzelne unabhängig voneinander funktionieren. Aber für diesen Raum sind sie als Gruppe und im Zusammenspiel konzipiert.
Diese Idee ist mir auch wichtig: das ganze Gebäude ist wie ein Lebewesen. Diese Idee, glaube ich, wird entsprechend deutlicher, wenn mehrere Arbeiten zusammenkommen.

N. S.: Vielen Dank für dieses Gespräch.   

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