TEXTE
Eugen Gomringer, 1999
Elementar und konstruktiv
Beobachtungen am Werk von Ulrike Kessl
Die Kunstpraxis ist in den Bereichen “konstruktiv” und “konkret” ( konkret verstanden als geometrisch Konkret) in den letzten Jahren erstaunlich fruchtbar – zu sehen vielleicht als Analogie zu einer Architektur lapidarer Formen, viel fruchtbarerer auf alle Fälle, als ihr in den Kunstorganen zugestanden wird an Aufmerksamkeit und Einbezug in die Öffentlichkeit. Zu kurz kommt indessen seit langem eine daraus zu “extrapolierende” Theorie “Konstruktive Kunst heute”. Dabei wurde nie mehr über Konstruktivität gesprochen und geschrieben in mehreren Disziplinen außerhalb der Kunst, ja es scheint, als käme kein Denkfeld mehr aus ohne den Begriff.
Die Arbeiten von Ulrike Kessl sollen nicht ins Konstruktive eingebogen werden – wohl aber kann sich ein neues Verständnis von Konstruktivität sein Paradigma an deren Arbeiten abgewinnen. Überlagert wird ein heutiger Denkansatz der Konstruktivität durch den immerwährenden Diskurs über Subjektivität und Objektivität, der durch die Wahrnehmungsforschung sich erneuter Aufmerksamkeit erfreut. Dass dabei Forderungen und Formen des Konstruktivismus der zwanziger Jahre gerade noch durch ihre kühnen Perspektiven und auch einen strengen Ethos in Erinnerung bleiben, sonst aber historisches Gut sind, braucht nur deshalb erwähnt werden, weil Konstruktivität immer wieder am Konstruktivismus gemessen wird, was sich angesichts heutiger konstruktiver Kunst einfach als inkongruent erweisen muss. Ja selbst dort, wo sich eine “Vision der Moderne” auf das “Prinzip Konstruktion” abstützte, berücksichtigte die Vision nicht, was Konstruktivität im Umkreis des Prinzips, im Ansatz jedoch nicht weniger streng und konsequent, einbringt. Konstruktivität versteht sich nicht als Abhängigkeit von mathematischer Stringenz oder geometrischer Musterbildung. Vielmehr ist zu beobachten, dass Konstruktivität in der Kunstpraxis als psychologische Gestaltkonsequenz definiert werden kann, und dass sie eher mit dem Begriff “elementar” zu vereinigen ist.
Lässt der Beobachter die Gestaltungen von Ulrike Kessl aus Erinnerung oder anhand von Abbildungen Revue passieren, stellt er mit Erstaunen fest, wie unterschiedlich diese an Dimension, Volumen, Körperhaftigkeit, ja insgesamt als Phänomene sich darstellen. Sie bilden eine Reihe von Erfindungen, teils aus räumlichen Bezügen – als Installationen – teils als bewegliche Objekte. Immer jedoch scheint die Erfindung mit einer bestimmten Idee verbunden, die sich grundlegend und einfach – “elementar” – werden lässt. Es stellt sich die Frage nach der Dominanz: was ausschlaggebend war, die Erfindung aus einer gegebenen Situation heraus, oder die suchende, subjektive Idee nach einer angemessenen Situation und objektivierbaren Möglichkeit? Die Antwort für die Gestaltungen von Ulrike Kessl kann schlicht lauten: beide Verfahrensweisen sind Erfindungen, wobei in manchen Fällen die Entdeckung einer Situation, eines Raumangebotes etc. vorausgegangen sein mag. Wesentlich am konstruktiven Verhalten ist eine durchgehende Einfachheit, eine grundlegende Erkenntnis der “Aufgabe” und schließlich die Transparenz des Machens. Ulrike Kessl teilt solche Eigenschaften mit nicht wenigen Kollegen und Kolleginnen, ihr Spürsinn für die genaue Richtigkeit einer Gestaltung bei wirklich breitem Wahrnehmungsspektrum lässt jedoch den Beobachter die Folge ihrer Erfindungen besonders aufmerksam und auf Überraschungen gefasst genießen.
Konstruktivität, wie sie sich am Werk von Ulrike Kessl ohne ideologische Operation sozusagen ergibt, bedeutet eine neue Erfindung des gestalterischen Subjekts.
Eugen Gomringer