TEXTE
Anne Rodler, 2009
Im magischen Garten der Bildhauerei.
Zum künstlerischen Werk von Ulrike Kessl.
Es ist ein ständiges Ausloten des Verhältnisses zwischen Mensch und
Raum, zwischen Raum und Körper, das im Werk von Ulrike Kessl erfahrbar
ist. Wie ein Puls, wie ein lebendig schlagendes Herz spürt man diese
Idee. Und so schafft die Künstlerin mit ihren organischen Objekten einen
ganz besonderen, beziehungsreichen Kosmos: Ihre Objekte greifen in
vorhandene Räume ein, erforschen sie und können diese in das Innere
eines Organismus verwandeln. Demgegenüber stehen bis in den kleinsten
Aufbau von Menschen oder Pflanzen vordringende Arbeiten, anatomische
Studien, zeichnerische, fotografische und textile Werke, die die
Feingliedrigkeit von Körperteilen und deren inneres Wesen untersuchen.
Ob Gewebe- oder Zellstruktur von Lebewesen, Raumpläne oder Bausubstanzen
eines Gebäudes, stets ist es das Interesse am Anatomischen und
Architektonischen, das die Künstlerin voranstellt.
Dieser
Katalog zeigt Ulrike Kessls Objekte und Installationen der Jahre 2001
bis 2009 im Dialog mit erstmals publizierten, ausgewählten Zeichnungen
aus der Werkgruppe “Organgarten” (2003). Ein Garten assoziiert die von
Menschenhand gestaltete Natur. Als Ort der gezähmten Pflanzen dient er
dem Rückzug, der menschlichen Sinnenfreude, dem Pausieren und der
beobachtenden Kontemplation. Im Garten der Organe präsentiert sich die
Natur in einer wunderbar gezeichneten Schönheit. Doch trügt der
studienartige, objektive Schein der Natürlichkeit, da die Pflanzen mit
menschlichen Organen zu phantastischen Gebilden zusammenwachsen. Ulrike
Kessl spielt hier auf die biologische Forschung der Genmanipulation und
darüber hinaus auf das menschliche Bestreben, die Natur zu beherrschen
und zu steuern, an. Gleichzeitig erinnert die Künstlerin an
mittelalterliche Vorstellungen, nach denen von formalen Analogien
zwischen Pflanzen und menschlichen Körperteilen auf Heilwirkungen
geschlossen wurde. In ihrer Zauberhaftigkeit verweisen diese Kreaturen
ins Reich des Magischen und Surrealen.
An die schöpferische
Imagination und Vorstellungsgabe knüpft das raumgreifende Objekt „
“Laufstall” (2001) an, dessen Form den beiden menschlichen Gehirnhälften
entspricht und das für Kleinkinder innerhalb einer Ausstellung zur
begehbaren Skulptur wird. Materielle Erfahrung, geistige und körperliche
Bewegung sind so der visuellen Darstellung von Nervenbahnen und
Speicherkammern des Gehirns gegenübergestellt. Als interaktives und
haptisch erfahrbares Objekt entstand ebenso die Sitzgruppe “Polströ”
(2001), die einen überdimensionalen Verdauungstrakt veranschaulicht.
Die fühlbare Oberfläche und die verborgene innere Struktur, Haut,
Organe und Skelett von Lebewesen und Dingen führt Ulrike Kessl immer
wieder in unterschiedlichen Kombinationen zusammen. In ihrer
künstlerischen Bildsprache setzt sie dies mittels verschiedenster
Objektcollagen aus verfremdeten Fundstücken, Stoffen und
Kleidungsstücken um. Aus Tüchern baut sie Räume, aus Kleidern Körper.
Über Luftballons geformte Nylonstrümpfe sind so das Ausgangsmaterial für
Objekte, die zunächst umgedrehte weibliche Unterkörper ergeben. Ulrike
Kessl bildet aus ihnen eine Gruppe märchenhafter, farbig leuchtender
Wesen mit dem Titel „Feerinden“ (2008/ 2009), die erneut nach dem
Inneren und Äußeren fragen. Stabilität und Fragilität, Hülle und Volumen
hinterfragt auch das Werk “Rocksäulen” (2003). Untereinander befestigte
Röcke bilden lange, den Raum trennende Säulen. Sie zitieren
Architekturelemente, deren tragende Funktion jedoch nicht erfüllt wird.
Die
Verwendung von Textilien zieht sich wie ein Faden durch das Repertoire
der Bildhauerin. Diese dienen ihr als form- und farbgebendes Material
und werden gleichzeitig zum “Stoff” des künstlerischen Experimentierens.
Darüber hinaus werden textile Techniken auf andere Materialien
übertragen, wie es in dem Vorhang aus Einladungskarten (2006) greifbar
wird. Postkarten wurden hier zerschnitten, vermischt und wieder
zusammengenäht. Als innenarchitektonisches Element verhängte dieser
Vorhang den Eingang des Goethe-Instituts in Rabat, auf den er sich
direkt bezog. Die Besucher mussten ihn passieren, um in die Ausstellung
und die Institutsräume zu gelangen, wobei sie aber auch wiederum
einzelne Informationen der Karten aus der Nähe lesen konnten.
Es
zeigt sich die stets präsente Verbindung von Zeichnungen, Fotografien
und Plänen mit plastischen Körpern und architektonischen Gegebenheiten –
in Wechselwirkungen wird das Flächige ins Plastische, das
Zweidimensionale ins Dreidimensionale geführt.
Anne Rodler