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Anja Wiese, 1996
Messen, Zählen, Handeln, Verkaufen
– kaum ein landläufiger Markt als Ort des Geschehens entbehrt der Waage
als Meßinstrument. Mit dem Auslegen von Personenwaagen als begehbare
Bodenskulptur auf dem Kunstmarkt wird das Instrument in Rollenumkehr
selbst zur Handelsware: wie Auslegware wird es per Quadratmeter
verkauft.
In ihrer Arbeit für die Förderkoje auf der Kunstmesse Art Cologne dreht
Ulrike Kessl den Spieß um: ihre Installation mit dem Titel “waagen” ist
nicht nur ein sich selbst darstellender Kunstgegenstand, welcher der
Bemessung und Beurteilung des Publikums angeboten wird. Vielmehr werden
die Betrachter der Arbeit zu deren Teilhabern, indem sie diese begehend
am eigenen Leib erfahren. Nicht sie bewerten das Werk dabei mit
distanziertem Blick, sondern ihr Körper wird Gegenstand der Erwägung.
Die für das Werk verwandten Personenwaagen unterscheiden sich in ihrer
je zeitgemäßen Form und Farbe, ihrem Design. Als funktionale Gegenstände
sind sie Zeugnisse der kollektiven Gestaltungsvorlieben Ihrer Zeit und
ihrer individuellen Ab-nutzung im Privathauhalt. Mit jedem einzelnen
Modell tritt uns die Vorstellung seiner Geschichte entgegen und die
Frage nach den Menschen, die dieses Ding genutzt haben mögen. Wie kein
anderer Haushaltsgegenstand steht die Waage dabei für eine Kultur der
Körperkontrolle. Ihr Platz ist das Badezimmer, ihre Funktion ist die
individualisierte Überwachung körperlicher Gewichtsentwicklung.
Ursprünglich ein unabdingbares Instrument des Handels wird die Waage
seit diesem Jahrhundert auch auf den Menschen angewandt. Im Nachkriegs –
Westdeutschland wurde sie zum Attribut eines Wirtschaftswachstums, zu
dessen Verlauf bald das Maßhalten im Überfluß gehörte.
In “waagen” verzichtet Ulrike Kessl auf jeden persönlichen Gestus.
Jenseits der Ideenfindung ist ihre künstlerische Arbeit das Sammeln und
Arrangieren der vorgefundenen Gegenstände. So wie die einzelne Waage der
Installation unbestimmender Teil ist, so ist die Künstlerin die in
ihrer unmittelbaren Individualität zurückgenommene Archäologin. Die
mengenhafte Aneinanderreihung der – zwar verschiedenen – Waagen, die
aber alle das Gleiche tun, nämlich wiegen, konterkariert das
anekdotisch-narrative Element, das die sichtbare Geschichtlichkeit der
gebrauchten Waagen transportiert. Die in Reih und Glied präsentierte
Vielfalt lässt das einzelne Stück gleichgültig werden. Das Einzelne ist
eben nur ein Teil des Ganzen und ersetzbar.
Menschen, die Waagen als Instrument der Körperkontrolle benutzen, wiegen
sich, weil sie ihrem Körper als Volumen und Masse ein Gewicht
beimessen. Gleichzeitig rduzieren sie sich damit auf ihren materiellen
Gehalt an Knochen, Organen, Haut. Indem das Wiegen alle Menschen auf
ihren kleinsten gemeinsamen Nenner, ihr Körpergewicht in Kilogramm und
Pfund, reduziert, zeigt es die menschliche Gleichheit in eben dieser
Körperhaftigkeit. Ulrike Kessl thematisiert den Körper nicht als
sinnliches Sensorium, sondern als Materie. Diese Körperauffassung ist
nicht erstaunlich für eine Bildhauerin, deren Thema schon seit Jahren
Masse, Volumen und Gewicht sind.
Das Begehen der Arbeit “waagen” durch die Besucher läßt zwischen jenen
und der Installation eine im votgegebenen Rahmen des Spiels
mitgestaltende Beziehung entstehen, denn der Zustand des Werkes wird
durch die Anwesenheit von Besuchern verändert. Insofern kennt die
Skulptur einen aktiven Bewegtzustand und einen Ruhezustand. Als
Teilnehmen/innen eines künstlerischen Bemessensprozesses auf den
ausgelegten Waagen balancierend, vollziehen Besucher das Wiegen als
elementar-mechanische Interaktion. Der Anstoß, den das Gewicht den
Waagen gibt, äußert sich im geräuschvollen Schwingen ihrer Meßblätter.
Doch diese Spuren unserer Schritte vergehen und das Spiel, das wir
treiben konnten pendelt aus.
Ulrike Kessls Arbeit “waagen” entfaltet eine Dialektik von Gleichheit
versus Verschiedenartigkeit, von Individualität versus Uniformität, von
Freiheit versus Bemessung. Das individuelle Spielen, das die
Partizipation am Werk ermöglicht, die Freude am Sich-Selbst-Wiegen und
am balancierenden Herumgehen steht dem Vermessen- und Gewogenwerden, der Reaktion auf die Materie gegenüber. Im Wiegen liegt eine den Körper auf sein Gewicht reduzierende Distanznahme zum Selbst und so wie alle Waagen gleich sind, sind alle Menschen vor ihnen gleich: indem sie
Gewicht haben, sind sie entindividualisiert. Darüberhinaus steht in “waagen” das Geringe des als Installationsmaterial genutzten,
alltäglichen Haushaltsgegenstandes der übergeordneten Bedeutung der
Waage als Symbol der Gerechtigkeit gegenüber.
Die Arbeit zeigt – und es sind stets die einfachen Wahrheiten , die
bestehen – daß alle Menschen ein Gewicht haben.Sie zeigt, daß wir
ge-wichtig sind und in dieser Wichtigkeit alle gleich: indem wir einen
Körper haben, der wiegt, wächst, erkrankt, vergeht.
Inmitten des Markttreibens erinnert uns die Künstlerin daran, daß in der
letztendlichen Bewertung nicht zu urteilen ist nach dem Gewicht. Die
Waage ist ihr dabei das gerechte Instrument, das diese Bewertung, selbst
mit verbundenen Augen, erlaubt. Ulrike Kessls Installation erwägt
spielerisch das, was sich unter der täuschenden Oberfläche dem
unzureichenden Blick verbirgt: den Wert der Ware Kunst.
Anja Wiese