Bühne der verkörperten Begegnung
TEXTE
Rita Kersting, 1997
Bühne der verkörperten Begegnung
Die Waage ist ein recht unbarmherziges Instrument, das nichts weiter tut
als eine Zahl zu zeigen, die das Gewicht unseres Körpers angibt. Es ist
eine anonyme, jedoch spezifische, eine objektive, jedoch individuelle
Ziffer,die uns erschreckt oder erfreut, abhängig von den Erwartungen und
vorangegangenen Maßhaltungen, mit denen wir die Waage besteigen. Oft
jedoch hinterläßt die Selbstbegegnung mit dieser abstrakten Zahl,
ähnlich wie beim Lesen der persönlichen Paßnummer, eine Leere, eine
innere Gleichgültigkeit. Sie bestätigt unsere Existenz, teilt uns aber
über uns selbst nichts mit.
Ulrike Kessl hat in Rheine eine Waage auf dem `Thie´ platziert, die
dreißig Jahre lang in einer Textilfabrik Garnspulen auswog. Dieser
Funktion enthoben erhält die Waage im Ausmusterungsalter an öffentlichem
Ort eine neue, die Kessl ermöglicht, aber nicht ausformuliert. Die
große Wiegefläche ist bündig in den Boden eingelassen, so daß keine
Hemmschwelle die Bummelnden von der Benutzung des Kunstwerks abhält, das
sich auf den ersten Blick ästhetisch von den platzgestaltenden
Schildern, Baumgittern und Laternen nicht unterscheidet, gleichwohl bei
näherer Betrachtung einen deplatzierten und leicht absurden Eindruck
macht. Dabei greift Ulrike Kessl mit der Waage auf ein traditionell von
öffentlicher und nicht von Künstlerhand aufgestelltes Instrument zurück,
das öffentliche Plätze seit dem Mittelalter als Orte des Handels
kennzeichnete.
Nicht als allansichtige, materialschwere und `schöne´Skulptur ist die ”
Statt-Waage” allein zu betrachten, sondern als Werkzeug, dessen Funktion
erst beim Betreten aktiviert wird. Eine theatrale Dimension bereichert
somit das keineswegs nur autonome Kunststück, das als Intervention das
Augenmerk auf die örtliche Situation und die Rezipienten lenkt.
Mit der Verlagerung der privaten, normalerweise in der Intimität des
eigenen Badezimmers stattfindenden Handlung auf den Rheiner `Thie´ wird
die Wiegefläche zur Bühne, die einen grenzenlosen Übergang von
Zuschauer, Benutzer und Kunstwerk gewährleistet. Die individuelle
Körperkontrolle gerät so zum kollektiven Ereignis, die private Handlung
zur öffentlichen Aufführung.
In unserer Zeit, in der sich Plätze von Nachbarschaftstreffpunkten zu
Parkplätzen, Einkaufszonen oder Verkehrsknotenpunkten entwickeln und
sich das Leben hinter die Fensterrolläden, vor den Fernseher
zurückzieht, erfährt der öffentliche Raum eine tiefe Krise. Mit
zunehmender Isolierung und der Möglichkeit per Telefon, Fax und E-mail
körperlos in Kontakt zur Außenwelt zu treten, verwaisen öffentliche
Plätze oder werden zur Heimstatt von verschiedenen Randgruppen unserer
Gesellschaft. Den Überraschungen und unvorhergesehenen Begegnungen, die
auf öffentlichen Plätzen erlebt werden können, entziehen sich die
Menschen immer häufiger durch Abwesenheit. Kessls “Statt-waage” erinnert
an unseren Körper sowohl durch ihre anthropomorphe Gestalt als auch
durch das Wiegen desselben. Begegnungen mit sich selbst und mit anderen
sind auf ihr möglich, dabei bildet der Körper als Materie eine Prämisse,
die in Zeiten zunehmender Immaterialität nicht selbstverständlich.
Rita Kersting
Verkleidungen
TEXTE
Emmanuel Mir, 2016
Verkleidungen
Abrupt, aber pointiert möchten wir sofort auf den Punkt kommen, ohne
Vorspiel und raffinierte Einleitung: Die Objekte, Installationen und
Assemblagen von Ulrike Kessl, die sie seit zehn Jahren verstärkt aus
diversen Kleidungsstücken entstehen lässt, schaffen zwar eine
unumgängliche Assoziation zum Körper – aber um den Körper geht es hier
mitnichten.
Wenn Strumpfhosen an der Fassade eines historischen Gebäudes (Monument
für Örebro) oder zwischen den vier Wänden einer Galerie (Nylons in
Space) aufgespannt, wenn Fotos von Kleidern und Blusen auf einen
textilen Hintergrund genäht (Inseln) oder Warnwesten miteinander
verbunden und trichterartig an die Decke gehängt werden (Syövest),
könnte der Rezipient geneigt sein, Metaphern des menschlichen Körpers in
diesen Stoffplastiken zu sehen. Dies wäre ein interpretatorischer
Reflex, ein in der Kunstrezeption der letzten fünfzig Jahre erlangter
intellektueller Kurzschluss. Bei den Arbeiten von Ulrike Kessl steht
aber nicht der Körper im Vordergrund, sondern der Raum. Durch den
Einsatz von Kleidungsstücken und Stoffen kommen die physischen und
atmosphärischen Eigenschaften des Raumes zur Geltung. Sowohl die
sachliche Komponente (Maße, Farben, Materialien, Verhältnisse etc.) als
auch die subjektive Ausstrahlung von natürlichen oder architektonischen
Räumen werden in diesen textilen Setzungen sichtbar gemacht – manchmal
betont und hervorgehoben, manchmal bloß kommentiert.
Gut, dass wir somit das potenzielle Missverständnis in der Rezeption von
Kessls Arbeit aus dem Weg geräumt hätten. Denn die Körpermetapher von
textilen Kunstwerken ist hartnäckig. Im Kontext der Bildenden Kunst ist
die narrative Kraft von Kleidern, insbesondere wenn sie aus Second Hand
stammen, verführerisch. Als Skulptur, Plastik oder Objekt beschwört das
isolierte, verfremdete Kleidungsstück den Körper und seine diversen –
politischen, biografischen, sozialen – Dimensionen herauf. Die Tradition
von Künstlern, und vor allem von Künstlerinnen, die darauf
zurückgegriffen haben, ist lang. Von Meret Oppenheim, Lygia Clark und
Marie-France Guilleminot bis zu Rebecca Horn – der Einsatz einer
modifizierten und präparierten zweiten Haut ist immer ein Hinweis auf
die erste. Der politische Hintergrund ist dabei nicht zu leugnen. Der
Körper, dieses aus poststrukturalischer Sicht dauerhafte Schlachtfeld
der Individuation, ist eine eminente politische Entität, und seine
künstliche Hülle gilt als sichtbares Symptom von unsichtbaren,
psychologischen oder sozialen Prozessen. Gerade wenn Künstlerinnen sich
mit dem Medium Stoff auseinandersetzen, scheint die Einbettung in einen
feministischen bzw. Gender-Kontext so gut wie unausweichlich. Dies ist
vor allem bestimmten intellektuellen und ästhetischen Moden geschuldet.
Die frühen 1990er Jahre, als Ulrike Kessl ihre ersten Arbeiten
realisierte und bereits Fuß im Kunstbetrieb fasste, erweisen sich in
dieser Hinsicht als eine besonders fruchtbare Dekade für die Gattung der
„Kleiderskulpturen“.1 Damals mehrte sich die Zahl an
Künstlerinnen, die die Oberflächen von textilen Stoffen als Medium ihrer
Arbeit nahmen und mit dieser Hülle die Tiefe des menschlichen
Individuums hinterfragten. Der Moos-Mantel von Leslie Fry, die
überlangen Kleider von Beverly Semmes, die exzentrischen Kostüme von
Klaar van der Lippe oder die bedruckten Überzieher von Alba D’Urbano
entstehen zu diesem Zeitpunkt und genießen eine starke Sichtbarkeit in
der Kunstwelt. Als Installation, und vor allem wenn sie en masse
verwendet werden, haftet dem Material ein Memento-mori-Charakter an, am
deutlichsten in den Arbeiten von Annette Messager oder Christian
Boltanski herauszulesen. Die getragenen Kleider werden dann als „Spur
zur Erinnerung“2 eingesetzt und besitzen daher einen hohen Grad an Emotionalität.
Ob als Objekt oder als Installation: Die Konnotationen der
Stoffskulpturen haben sich in der zeitgenössischen Kunst so gefestigt,
dass ihre unvoreingenommene Verwendung kaum noch möglich zu sein
scheint. Und doch wagt sich Ulrike Kessl an eine Umdeutung des
Materials. Als sie anfing, zunehmend mit Textilien zu arbeiten, war
Kessl darüber bewusst, dass sie sich der interpretativen Gefahrenzone
der Körpermetapher näherte. Vielleicht um diese Gefahr zu
neutralisieren, legte sie zunächst den Schwerpunkt auf raue Stoffe,
deren Bezug zum Körper nicht evident war. In der in Marfa, Texas,
entstandenen Landscape-Serie (1997) oder in Treppenhaus (1994) und
Gehirn (1998) baute die Künstlerin Räume aus Nessel und Musselin, die
mit ihren klaren Linien und ihrer sachlichen, nicht erzählerischen
Präsenz, architektonisch definiert waren. Selbstverständlich war der
Körper des Betrachters aus diesen Raumkonstrukten nie ausgeschlossen –
im Gegenteil mussten diese Räume physisch erfahren werden –, aber der
Zusammenhang mit intimen, individuellen Körpern geriet in den
Hintergrund zugunsten eines phänomenologischen Auslotens der gegebenen
Raumeigenschaften.
Wie als Reminiszenz an diese frühen Werke suchen manche neueren Arbeiten
von Kessl die Reibung mit dem Betrachter. In Running Clothes (2009)
beispielsweise tritt der Körper des Rezipienten in direkten Kontakt mit
den gefärbten Strumpfhosen, die an Seilzügen hängen. Anders als Rutrill
(2014) oder als das Monument für Örebro (2015), die beide eine frontale
und daher distanzierte Rezeption implizieren, ist die physische
Auseinandersetzung mit dem Raum ein zentraler Aspekt der Installation.
Der Besucher, der in den tunnelartigen Raum des Field Institute auf der
Museumsinsel Hombroich eindringt, kommt sehr nah an die textilen
Gegenstände heran. Es muss aber unterstrichen werden, dass Running
Clothes speziell für das an sich räumlich schwierige, langgezogene und
mit natürlichem Licht kaum ausgestattete Field Institute konzipiert
wurde. Die Strumpfhosen werden als Kontrapunkte in dem Raum eingesetzt,
ihre vertikale Ausrichtung betont den vorherrschenden horizontalen
Charakter des Ortes. Ihre Farbgebung schafft zudem einen starken
Kontrast zur Kälte und Unwirtlichkeit des (gewiss untypischen) White
Cube. Die Strumpfhosen bewirken also eine Intensivierung des Blicks,
eine Schärfung der Wahrnehmung. Der Raum ist nicht nur Träger und
Behälter; er wird zu einem autonomen Körper gemacht, dessen
Eigenschaften man sich durch Kessls Intervention bewusst(er) wird. Summa
summarum: Running Clothes ist eine Site-specific-Installation, und wie
jede Site-specific-Installation wird der Schwerpunkt auf Raumaspekte
gelegt. Das Site-specific-Argument reicht an sich aus, um psychologische
oder narrative Interpretationen in der Arbeit von Ulrike Kessl zu
entkräften.3
Ein interessanter Punkt dieser Arbeit betrifft die Wechselverhältnisse
zwischen Distanz und Nähe. Wir haben es bereits angedeutet: Werke wie
Rutrill oder Monument für Örebro halten den Rezipient auf Distanz – ganz
anders als Running Clothes. Die zweiteilige Installation Rutrill wurde
für den Kunstverein Lemgo realisiert und besteht einerseits aus bunten
Nylonstrumpfhosen, befestigt an dem Vorbau des Eichenmüllerhauses, und
anderseits aus einer monochromen Linie von weiteren Strumpfhosen, die
zwischen zwei Bäumen im Garten des Hauses hängen. Die Distanzierung
entsteht hier durch die Vielzahl der Arbeiten. Der Betrachter kann das
ganze Bild der verkleideten Fassade („verkleidet“ ist hier im
architektonischen Sinne zu verstehen) nur aus gut zwanzig Meter Abstand
wahrnehmen. Und für die deutlich größere Arbeit am Rathaus von Örebro
sind zwanzig Meter mehr vonnöten. Es bleibt also dem Rezipienten
verwehrt, den gesamtgestalterischen Entwurf und dessen detaillierte
Oberflächenstruktur gleichzeitig zu erfassen; er muss hin und her gehen,
um die zwei verschiedenen Informationen zu verknüpfen. Ähnlich verhält
es sich mit Rondo (2015), das hoch über den Köpfen der Spaziergänger
hängt, oder mit Halbwolke (2010), die, egal ob es sich um die Innen-
oder Außenraum-Version handelt, unerreichbar bleibt. Durch die
strategische Platzierung ihrer Installationen an Stellen, die ein
Fernhalten des Betrachters provozieren, gibt Ulrike Kessl einen Fokus
vor und bestimmt den perzeptiven Rhythmus. Dagegen ruft die Wuppertaler
Fassung von Nylon in Space (2015) eine Nähe hervor, die stark an die von
Running Clothes erinnert. Auch hier ist der Körper des Besuchers
unmittelbar in das Werk einbezogen; hier ist der Leib des Rezipienten
ein integraler Bestandteil der Arbeit, gefangen im Raum wie eine Fliege
im Spinnennetz.
Mit der maximalen Spannkraft von Nylon in Space verlieren die
Strumpfhosen jedwede Referenz zu ihrer ursprünglichen Funktionalität.
Hier fungieren sie nur noch als Material. Es sind Gegenstände, die in
erster Linie durch ihre elastischen Eigenschaften definiert werden. Es
sind aber vor allem Elemente, die den Raum animieren und strukturieren
bzw. gegen die vorhandene Raumstruktur arbeiten. Auch da entdeckt man
ein antithetisches Moment in Kessls Vorschlag. Weil die Innenarchitektur
des Neuen Kunstvereins von Horizontalen und Vertikalen dominiert ist
und weil die massiven Pfeiler Schwere und Behäbigkeit ausstrahlen, setzt
die Künstlerin bunte Diagonalen, die luftig, leuchtend und lebendig
wirken. Der Raum ist nicht mehr zu erkennen. Oder: Man muss ihn mit ganz
neuen Augen sehen.
Ähnlich ist die undankbare Ecke im Wilhelm Lehmbruck Museum von
Duisburg, in dem Kessl eine andere Version von Nylon in Space
installiert. Undankbar ist die Ecke schon, weil sie sich mit ihrer
winzigen, die Wandfläche unterbrechenden Fensterecke und mit der
Klimaanlage an der Decke, die eine weitere visuelle Störung hervorruft,
für herkömmliche Kunstpräsentationen nicht eignet. Genau da aber nistet
sich Ulrike Kessl ein und dehnt ihr Nylonnetz aus, um all die
schwierigen Raumumstände zu tilgen. Die Installation wird zu einem
Ornament, das den Raum homogenisiert und dynamisiert. An diesen zwei
Installationen wird deutlich, wie Kessl die Herausforderung sucht und
sich gerne an architektonisch schwierigen Räumen reibt. Die
Nylonstrumpfhosen sind in dieser Hinsicht eine adäquate und witzige
Antwort auf „unmögliche Orte“: Wie eine invasive Pflanzenart mit hoher
Anpassungsfähigkeit schmiegen sie sich an jede Struktur und verändern
diese für die kurze Zeit der Intervention. Zugleich aber ist das
Material so leicht und zart, dass es seine Umwelt nicht erdrückt oder
erstickt. Mit den Nylonstrumpfhosen lässt sich jeder Raum bewältigen,
ohne jedoch ihn vollständig verschwinden zu lassen.
Die gebrauchte Natur der Strumpfhosen ist übrigens nicht ganz
unbedeutend, denn sie sorgt für die individuelle Farbigkeit jedes
einzelnen Stücks – und damit für die chromatische Vielfalt der
Installationen und Interventionen. Nach dem Prozess ihres Sammelns, der
meistens aus einer lokal durchgeführten Aufrufaktion hervorgeht, wird
die Nylonware gefärbt, wobei ihre Ursprungsfarbe ihnen eine besondere
Note verleiht. Selbstverständlich geht Kessl bewusst mit der
Zusammensetzung der Farben um und komponiert mit Abstufungen eines
Grundtons (Rondo, 2015) oder arbeitet im Gegenteil mit eklatanten
Kontrasten (Nylons in Space, 2015/16); aber von einem Bezug zur Malerei
zu sprechen, wäre hier übertrieben. Die Farbe ist vielmehr als Signal zu
verstehen, als Kennzeichnung im Raum, leicht und aus weiter Entfernung
sichtbar. Sie zieht den Blick in die Landschaft unweigerlich an sich und
betont die Funktion der textilen Objekte als Eye-Catcher.
Spannung, Leichtigkeit und Dynamik charakterisieren die plastische
Arbeit von Ulrike Kessl. Und: Immer hängt etwas von der Decke oder von
der Wand herunter. Eine Kunst im Schwebezustand. Eine Kunst, die die
Vertikale sucht. Eine Kunst, die die Statik nicht akzeptiert und die
Luft als Element bevorzugt (eine für die Gattung der Plastik
außergewöhnliche Neigung). Wie Nylon in Space existiert Halbwolke (2010)
in zwei distinkten Versionen. Die erste hing an Bäumen in einem Garten
am Rhein, die andere wurde im Treppenhaus des Bukarester Bauernmuseums
angebracht und schwankte leicht über dessen Atrium. Die Installation
entstand nach einer Reise der Künstlerin nach Rumänien, bei der sie die
Moldauklöster mit ihren typischen geschwungenen, an feine und breite
Hauben erinnernden Dächern kennenlernte. Halbwolke gibt exemplarisch
vor, wie Kessl die potenziell narrativen oder atmosphärischen Faktoren
ihrer Arbeit neutralisiert. Trotz der Vorgabe des Titels soll die
Illusion nicht allzu viel Raum erhalten – das ist keine Wolke, sondern
eben eine Halbwolke. Deshalb wurde ein roter Saum eingenäht, der jede
erzählerische Anknüpfung absichtlich ruiniert (?). Mehr als ein Ding
(Wolke, Qualle, Blume, Schiff, UFO etc.) oder mehr als die stilisierte
Erinnerung an ein Ding aus der Realwelt ist Halbwolke in erster Linie
eine Form. Eine Form mit einer spezifischen physischen Identität, aber
ohne narrative Referenz, ohne Geschichte, ohne Anekdote. Eine abstrakte
und daher allgemeine, nicht auf eine bestimmte Assoziation reduzierbare
Form.
Eine Assoziation aus dem kunsthistorischen Bereich können wir uns aber
nicht verkneifen: die des Baldachins. Das über dem Thron, dem Altar oder
dem Bett aufgebaute Zierdach ist – anders als allgemein gedacht – kein
reines dekoratives Element. Der Baldachin schafft vor allem eine
Markierung. Er hebt eine besondere Stelle hervor, verdeutlicht, dass das
sich darunter befindende Objekt/Subjekt edel oder gar heilig ist.
Deshalb findet man auch Baldachine in abgeschlossenen Räumen wie in
Kirchen, über Reliquienschreinen oder Grabmälern. Der Baldachin ist
nicht nur Schutz, er ist vor allem Symbol und Visualisierung der Macht
und der Würde. Ostentativ macht er auf die Besonderheit der Menschen und
des Raums unter ihn aufmerksam. Diese Markierungsfunktion finden wir in
verschiedenen Arbeiten von Ulrike Kessl wieder – in Rondo, in Rutrill
und in Syövest. Durch ihre Platzierung an hervorgehobenen Plätzen im
Innen- oder Außenraum erschafft Kessl eine abgegrenzte Sonderzone in der
Landschaft und setzt eine intensivere Aufmerksamkeit dessen durch.
Diese Tatsache bekräftigt die von uns weiter oben gemachte Bemerkung zur
Funktion der Farbe in diesen Installationen: Jede Setzung ist ein
Signal, eine Aufforderung, den Genius Loci genauer wahrzunehmen.
In diesem räumlich geprägten Arbeitskontext schaffen die Bildassemblagen
von Ulrike Kessl ein zusätzliches Reflektionsmedium, das sich von jeder
Ortsspezifik frei macht. Haufen von Hemden, Bustiers, Hosen und anderen
Textilien werden nach Farbtönen sortiert, so dass ein einheitliches
Gesamtbild entsteht, und in „Inseln“ – so auch der Titel der Reihe –
gruppiert und fotografiert. In einem weiteren Schritt werden die
mittelgroßen Fotografien auf Teppiche genäht. Es sind eigenständige
Skizzen, ohne Verweis auf bestehende Installationen und nicht mal als
Denkstützen für künftige Realisierungen konzipiert. Diese formalen
Experimente, die die Möglichkeiten einer Arbeit mit vorgefundenen
Kleidungsstücken ausloten, sind da, um bestimmte Aspekte der
künstlerischen Produktion von Kessl zu unterstreichen. Weil sie eben
ohne Raumeinbettung auskommen, besitzen sie einen ausgeprägten
skulpturalen Charakter (trotz ihrer zweidimensionalen Natur). Die Form,
das Spiel mit den Volumen und mit den Leerräumen, die Risse und
Faltenwürfe, die Textur der verschiedenen Flächen und die bedachten
Variationen der diversen Textilien rücken hier in den Vordergrund.
Emmanuel Mir
1. Vgl. z. B. die Ausstellungen „Empty Dress – Clothing
as Surrogate in Recent Art“ im ICI New York (1993), „Discursive Dress“
im Kohler Art Center, Sheboygan (1994) oder „Metaphors. The Image of
Clothing in Contemporary Art” im Huntsville Museum of Art (1989).
2. Cora von Pape: Kunstkleider – Die Präsenz des Körpers in textilen Kunst-Objekten des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2008.
3. Obwohl wir noch ein Argument hätten, das gegen die Körpermetapher
spricht: Für die Nachwelt und für diejenigen, die die Wirkung von
Running Clothes nie leibhaftig erlebt haben, bleibt zur Erfassung der
Arbeit also nur – wie für eine Performance – das hier reproduzierte
fotografische Material übrig. Auffällig ist in diesem Punkt, dass Kessl
auf Ansichten verzichtet, die den Rezeptionsakt festhalten, um sich auf
die reine Raumsituation zu konzentrieren. Hätte sie die Konfrontation
des Betrachters mit ihrer Arbeiten dokumentieren wollen, wären Menschen
auf diesen Bildern.
Messen, Zählen, Handeln, Verkaufen
TEXTE
Anja Wiese, 1996
Messen, Zählen, Handeln, Verkaufen
– kaum ein landläufiger Markt als Ort des Geschehens entbehrt der Waage
als Meßinstrument. Mit dem Auslegen von Personenwaagen als begehbare
Bodenskulptur auf dem Kunstmarkt wird das Instrument in Rollenumkehr
selbst zur Handelsware: wie Auslegware wird es per Quadratmeter
verkauft.
In ihrer Arbeit für die Förderkoje auf der Kunstmesse Art Cologne dreht
Ulrike Kessl den Spieß um: ihre Installation mit dem Titel “waagen” ist
nicht nur ein sich selbst darstellender Kunstgegenstand, welcher der
Bemessung und Beurteilung des Publikums angeboten wird. Vielmehr werden
die Betrachter der Arbeit zu deren Teilhabern, indem sie diese begehend
am eigenen Leib erfahren. Nicht sie bewerten das Werk dabei mit
distanziertem Blick, sondern ihr Körper wird Gegenstand der Erwägung.
Die für das Werk verwandten Personenwaagen unterscheiden sich in ihrer
je zeitgemäßen Form und Farbe, ihrem Design. Als funktionale Gegenstände
sind sie Zeugnisse der kollektiven Gestaltungsvorlieben Ihrer Zeit und
ihrer individuellen Ab-nutzung im Privathauhalt. Mit jedem einzelnen
Modell tritt uns die Vorstellung seiner Geschichte entgegen und die
Frage nach den Menschen, die dieses Ding genutzt haben mögen. Wie kein
anderer Haushaltsgegenstand steht die Waage dabei für eine Kultur der
Körperkontrolle. Ihr Platz ist das Badezimmer, ihre Funktion ist die
individualisierte Überwachung körperlicher Gewichtsentwicklung.
Ursprünglich ein unabdingbares Instrument des Handels wird die Waage
seit diesem Jahrhundert auch auf den Menschen angewandt. Im Nachkriegs –
Westdeutschland wurde sie zum Attribut eines Wirtschaftswachstums, zu
dessen Verlauf bald das Maßhalten im Überfluß gehörte.
In “waagen” verzichtet Ulrike Kessl auf jeden persönlichen Gestus.
Jenseits der Ideenfindung ist ihre künstlerische Arbeit das Sammeln und
Arrangieren der vorgefundenen Gegenstände. So wie die einzelne Waage der
Installation unbestimmender Teil ist, so ist die Künstlerin die in
ihrer unmittelbaren Individualität zurückgenommene Archäologin. Die
mengenhafte Aneinanderreihung der – zwar verschiedenen – Waagen, die
aber alle das Gleiche tun, nämlich wiegen, konterkariert das
anekdotisch-narrative Element, das die sichtbare Geschichtlichkeit der
gebrauchten Waagen transportiert. Die in Reih und Glied präsentierte
Vielfalt lässt das einzelne Stück gleichgültig werden. Das Einzelne ist
eben nur ein Teil des Ganzen und ersetzbar.
Menschen, die Waagen als Instrument der Körperkontrolle benutzen, wiegen
sich, weil sie ihrem Körper als Volumen und Masse ein Gewicht
beimessen. Gleichzeitig rduzieren sie sich damit auf ihren materiellen
Gehalt an Knochen, Organen, Haut. Indem das Wiegen alle Menschen auf
ihren kleinsten gemeinsamen Nenner, ihr Körpergewicht in Kilogramm und
Pfund, reduziert, zeigt es die menschliche Gleichheit in eben dieser
Körperhaftigkeit. Ulrike Kessl thematisiert den Körper nicht als
sinnliches Sensorium, sondern als Materie. Diese Körperauffassung ist
nicht erstaunlich für eine Bildhauerin, deren Thema schon seit Jahren
Masse, Volumen und Gewicht sind.
Das Begehen der Arbeit “waagen” durch die Besucher läßt zwischen jenen
und der Installation eine im votgegebenen Rahmen des Spiels
mitgestaltende Beziehung entstehen, denn der Zustand des Werkes wird
durch die Anwesenheit von Besuchern verändert. Insofern kennt die
Skulptur einen aktiven Bewegtzustand und einen Ruhezustand. Als
Teilnehmen/innen eines künstlerischen Bemessensprozesses auf den
ausgelegten Waagen balancierend, vollziehen Besucher das Wiegen als
elementar-mechanische Interaktion. Der Anstoß, den das Gewicht den
Waagen gibt, äußert sich im geräuschvollen Schwingen ihrer Meßblätter.
Doch diese Spuren unserer Schritte vergehen und das Spiel, das wir
treiben konnten pendelt aus.
Ulrike Kessls Arbeit “waagen” entfaltet eine Dialektik von Gleichheit
versus Verschiedenartigkeit, von Individualität versus Uniformität, von
Freiheit versus Bemessung. Das individuelle Spielen, das die
Partizipation am Werk ermöglicht, die Freude am Sich-Selbst-Wiegen und
am balancierenden Herumgehen steht dem Vermessen- und Gewogenwerden, der Reaktion auf die Materie gegenüber. Im Wiegen liegt eine den Körper auf sein Gewicht reduzierende Distanznahme zum Selbst und so wie alle Waagen gleich sind, sind alle Menschen vor ihnen gleich: indem sie
Gewicht haben, sind sie entindividualisiert. Darüberhinaus steht in “waagen” das Geringe des als Installationsmaterial genutzten,
alltäglichen Haushaltsgegenstandes der übergeordneten Bedeutung der
Waage als Symbol der Gerechtigkeit gegenüber.
Die Arbeit zeigt – und es sind stets die einfachen Wahrheiten , die
bestehen – daß alle Menschen ein Gewicht haben.Sie zeigt, daß wir
ge-wichtig sind und in dieser Wichtigkeit alle gleich: indem wir einen
Körper haben, der wiegt, wächst, erkrankt, vergeht.
Inmitten des Markttreibens erinnert uns die Künstlerin daran, daß in der
letztendlichen Bewertung nicht zu urteilen ist nach dem Gewicht. Die
Waage ist ihr dabei das gerechte Instrument, das diese Bewertung, selbst
mit verbundenen Augen, erlaubt. Ulrike Kessls Installation erwägt
spielerisch das, was sich unter der täuschenden Oberfläche dem
unzureichenden Blick verbirgt: den Wert der Ware Kunst.
Anja Wiese
Elementar und konstruktiv
TEXTE
Eugen Gomringer, 1999
Elementar und konstruktiv
Beobachtungen am Werk von Ulrike Kessl
Die Kunstpraxis ist in den Bereichen “konstruktiv” und “konkret” (
konkret verstanden als geometrisch Konkret) in den letzten Jahren
erstaunlich fruchtbar – zu sehen vielleicht als Analogie zu einer
Architektur lapidarer Formen, viel fruchtbarerer auf alle Fälle, als ihr
in den Kunstorganen zugestanden wird an Aufmerksamkeit und Einbezug in
die Öffentlichkeit. Zu kurz kommt indessen seit langem eine daraus zu
“extrapolierende” Theorie “Konstruktive Kunst heute”. Dabei wurde nie
mehr über Konstruktivität gesprochen und geschrieben in mehreren
Disziplinen außerhalb der Kunst, ja es scheint, als käme kein Denkfeld
mehr aus ohne den Begriff.
Die Arbeiten von Ulrike Kessl sollen nicht ins Konstruktive eingebogen
werden – wohl aber kann sich ein neues Verständnis von Konstruktivität
sein Paradigma an deren Arbeiten abgewinnen. Überlagert wird ein
heutiger Denkansatz der Konstruktivität durch den immerwährenden Diskurs
über Subjektivität und Objektivität, der durch die
Wahrnehmungsforschung sich erneuter Aufmerksamkeit erfreut. Dass dabei
Forderungen und Formen des Konstruktivismus der zwanziger Jahre gerade
noch durch ihre kühnen Perspektiven und auch einen strengen Ethos in
Erinnerung bleiben, sonst aber historisches Gut sind, braucht nur
deshalb erwähnt werden, weil Konstruktivität immer wieder am
Konstruktivismus gemessen wird, was sich angesichts heutiger
konstruktiver Kunst einfach als inkongruent erweisen muss. Ja selbst
dort, wo sich eine “Vision der Moderne” auf das “Prinzip Konstruktion”
abstützte, berücksichtigte die Vision nicht, was Konstruktivität im
Umkreis des Prinzips, im Ansatz jedoch nicht weniger streng und
konsequent, einbringt. Konstruktivität versteht sich nicht als
Abhängigkeit von mathematischer Stringenz oder geometrischer
Musterbildung. Vielmehr ist zu beobachten, dass Konstruktivität in der
Kunstpraxis als psychologische Gestaltkonsequenz definiert werden kann,
und dass sie eher mit dem Begriff “elementar” zu vereinigen ist.
Lässt der Beobachter die Gestaltungen von Ulrike Kessl aus Erinnerung
oder anhand von Abbildungen Revue passieren, stellt er mit Erstaunen
fest, wie unterschiedlich diese an Dimension, Volumen, Körperhaftigkeit,
ja insgesamt als Phänomene sich darstellen. Sie bilden eine Reihe von
Erfindungen, teils aus räumlichen Bezügen – als Installationen – teils
als bewegliche Objekte. Immer jedoch scheint die Erfindung mit einer
bestimmten Idee verbunden, die sich grundlegend und einfach –
“elementar” – werden lässt. Es stellt sich die Frage nach der Dominanz:
was ausschlaggebend war, die Erfindung aus einer gegebenen Situation
heraus, oder die suchende, subjektive Idee nach einer angemessenen
Situation und objektivierbaren Möglichkeit? Die Antwort für die
Gestaltungen von Ulrike Kessl kann schlicht lauten: beide
Verfahrensweisen sind Erfindungen, wobei in manchen Fällen die
Entdeckung einer Situation, eines Raumangebotes etc. vorausgegangen sein
mag. Wesentlich am konstruktiven Verhalten ist eine durchgehende
Einfachheit, eine grundlegende Erkenntnis der “Aufgabe” und schließlich
die Transparenz des Machens. Ulrike Kessl teilt solche Eigenschaften mit
nicht wenigen Kollegen und Kolleginnen, ihr Spürsinn für die genaue
Richtigkeit einer Gestaltung bei wirklich breitem Wahrnehmungsspektrum
lässt jedoch den Beobachter die Folge ihrer Erfindungen besonders
aufmerksam und auf Überraschungen gefasst genießen.
Konstruktivität, wie sie sich am Werk von Ulrike Kessl ohne ideologische
Operation sozusagen ergibt, bedeutet eine neue Erfindung des
gestalterischen Subjekts.
Eugen Gomringer
«Es passieren eigentlich immer unvorhergesehene Sachen»
TEXTE
«Es passieren eigentlich immer unvorhergesehene Sachen»
Ein Gespräch zwischen Ulrike Kessl (U.K.) und Necmi Sönmez (N.S.), 2003
[su_quote style=“default“ cite=““ url=““ class=““]VERSTECKTES KIND: Es kennt in der Wohnung schon alle Verstecke und kehrt darein wie in ein Haus zurück, wo man sicher ist, alles beim alten zu finden. Ihm klopft das Herz, es hält seinen Atem an. Hier ist es in die Stoffwelt eingeschlossen. Sie wird ihm ungeheuer deutlich, kommt ihm sprachlos nah. So wird erst einer, den man aufhängt, inne, was Strick und Holz sind. Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind. Und hinter einer Türe ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten. Um keinen Preis darf es gefunden werden.[/su_quote]
Zitat: Walter Benjamin, Einbahnstraße, Frankfurt a.M. 1997, 13 Auflage, S. 59 f.
Ulrike Kessls Installationsprojekt “Arbeiten für ein verstecktes Kind” im Ausstellungsraum des RWE-Turms in Essen umfaßt fünf Arbeiten, die neue Aspekte im Werk der Künstlerin thematisieren. Da Kessl ihr Projekt aus einer intensiven Auseinandersetzung mit den architektonischen Gegebenheiten des Turmes entwickelte und der Zeitplan sehr eng gesteckt war, war die Zusammenarbeit für alle Beteiligten dieser Ausstellung im wahrsten Sinne ein “work in progress”. Immer wieder ergaben sich Veränderungen während der Vorbereitungen. Unsere Entscheidung, diesen Veränderungsprozess auch in der Ausstellung zu thematisieren, führte zu folgendem Gespräch, das wir am 1. Mai 2001 im Atelier der Künstlerin in Düsseldorf führten:
Necmi Sönmez: Du hast oft Arbeiten realisiert, die über die autonome Skulptur
hinausgehen und mit dem Betrachter eine Interaktion anstreben. Kann man
dein neues Installationsprojekt, das speziell für den RWE-Turm in Essen
entwickelt wurde, auch in diesem Kontext sehen?
Ulrike Kessl: Ja, die Skulpturen sind so gedacht, dass sie mit dem Besucher
eine Interaktion eingehen können, aber nicht unbedingt müssen.
N. S.: Es ist notwendig, zu definieren, weshalb Interaktion für dich als künstlerische Strategie wichtig ist.
U. K.: Zum einen ist es natürlich ein Wesensmerkmal der Installation,
dass der Betrachter stärker in die Arbeit einbezogen wird als dies bei
einem Bild oder einer Skulptur der Fall ist. Er ist von der Installation
ganz oder teilweise umgeben. Sie besetzt sozusagen den Raum. Zum
anderen ist mir der direkte, körperliche Kontakt zwischen Betrachter und
Kunst wichtig.
N. S.: Wann oder mit welcher Arbeit fing diese Interaktion an?
U. K.: Einige meiner ganz frühen Arbeiten, die während des Studiums
entstanden, sind im Grunde schon so konzipiert. 1983 habe ich in einem
sehr langen, schmalen Flur in der Akademie direkt unter der Decke Fäden
im Abstand von 10 cm gespannt und Zeitungspapier darüber gehängt. Wenn
jemand durch den Flur hindurchging, bewegte sich das Zeitungspapier wie
eine Welle hinter ihm her.
N. S.: Aber wann hast du zum ersten Mal den Ausstellungsraum in den Kontext einbezogen?
U. K.: Das fing eigentlich mit den großen Stoffarbeiten an. Die erste
habe ich 1993 im Dominikanermuseum in Rottweil realisiert. Es war eine
Art Zelt und mir fiel auf, dass sehr viele Besucher, vor allem Kinder,
fragten, ob man es betreten darf. Ein Jahr später habe ich in der
Hawerkamphalle in Münster darauf reagiert. Ich gestaltete die Arbeit
“Treppenhaus” so, dass man sie benutzen konnte. Die Installation war im
Erdgeschoss begehbar.
N. S.: Interaktion als künstlerische Strategie in eine Arbeit
einzubeziehen, heißt ja auch, eine gewisse Herausforderung an den
Rezipienten zu stellen, so dass er erst nach dem Akzeptieren dieser
Herausforderung beginnen kann, die Arbeit richtig zu interpretieren oder
zu verstehen.
U. K.: Aber das heisst nicht zwangsläufig, dass jemand, der sich nicht
auf die konkrete Interaktion einlässt, eine Arbeit deshalb nicht
verstehen kann. Meine Arbeiten funktionieren auch, wenn sie nicht
benutzt werden, dann allerdings auf andere Weise.
N. S.: Deine Arbeiten haben auch einen hohen ästhetischen und sehr
poetischen Anreiz. Dieser kann sich auch wie bei einer autonomen
Skulptur entfalten. Aber manche deiner Installationen im Raum machen
sich deutlicher bemerkbar, wenn man mit ihnen eine Interaktion eingeht.
Wenn ich über deine Werkentwicklung nachdenke, fällt mir auf, dass du
deine Arbeit immer wieder innerhalb zweier Pole gestaltest. Zum einen
den Wunsch nach Interaktion, die Einladung zu einer Beteiligung durch
den Betrachter. Der zweite Pol ist eine hohe ästhetische, sehr sinnliche
Materialität, die bei deinen Stoffinstallationen präsent ist und die
den Rezipienten mitunter provoziert. Für mich wäre es interessant zu
erfahren, wie du bei einer Arbeit entscheidest, welchen Pol du in den
Vordergrund stellst und welcher dann in den Hintergrund tritt. Oder
machst Du diesen Unterschied überhaupt nicht?
U. K.: Eigentlich mache ich diesen Unterschied nicht. Ausgangspunkt ist
immer eine Idee. Erst danach kommt die Frage: wie setze ich um, was ich
im Kopf habe? In dieser Phase denke ich auch über die möglichen
Reaktionen der Betrachter nach, wobei es schwer ist, diese im Einzelnen
vorherzusehen. Der Ausstellungsraum, sein Kontext und die Bewegung der
Menschen im Raum spielen in dem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Der
Architekt lenkt und führt den Besucher – ich greife dann nochmals auf
meine Weise ein.
Ein Beispiel: auf der Kunstmesse Art Cologne habe ich 1996 eine
Installation gezeigt, die aus 260, zu einem Feld zusammengefügten
Personenwaagen bestand. Ich wollte, dass die Besucher sich auf den
Waagen bewegen und sich dabei wiegen. Da die Anordnung der Wände noch
nicht feststand, konnte ich eine Durchgangssituation schaffen, die die
Besucher praktisch in die Arbeit hineinzog. Das war natürlich eine ganz
spezielle Situation, denn normalerweise ist der Raum ja vorgegeben, aber
das Beispiel zeigt, wie wichtig das Zusammenspiel von Architektur und
Installation ist. Bis zur Eröffnung einer Ausstellung weiß ich oft
nicht, ob meine Idee funktioniert, ob die Besucher so reagieren, wie ich
es mir vorstelle. Es ist wie bei einer spontanen Performance, es
passiert immer etwas Unvorhergesehenes. Für mich ist das
Überraschungsmoment äußerst wichtig, ich leite davon immer etwas für die
nächsten Arbeiten ab. Ich denke aber doch, dass ich so weit
vorausplanen kann, dass die Interaktion auch funktioniert – bisher hat
es jedenfalls immer geklappt.
N. S.: Ich habe oft in deine Skizzenbücher und Notizbücher geschaut. Man
sieht deutlich, dass du schon früh anfängst, über einen interaktiven
Aspekt in deiner Arbeit nachzudenken. Dann machst du ganz genaue
Zeichnungen, wie du dir die Interaktion konkret vorstellst. Schließlich
gibt man dir die Möglichkeit, deine Vorstellungen auch in Installationen
umzusetzen; mich interessiert diese Transformation. Wie überträgst du
deine Ideen, deine Skizzen auf den Raum? Inwieweit ist für dich diese
Transformation von einer Skizze zu einer interaktiven Arbeit von der
Situation im Raum abhängig?
U. K.: Das bedingt sich immer gegenseitig. Es ist sehr selten, dass ich
eine Idee habe, und dann kommt der Raum dazu und Peng! das klappt.
Meistens ist es so, dass Ideen existieren, in Form von Skizzen oder
Notizen, die durch die Situation im Raum transformiert werden. Das ist
ein Prozess, der hin und her geht. Zum Beispiel hatte ich schon vor
längerer Zeit eine Notiz gemacht: zwei Matratzen in Form von Gehirn und
Verdauungssystem. Daraus sind jetzt die Sitzlandschaft und der Laufstall
geworden. Das ist einfach die künstlerische Arbeit, die dann noch
stattfindet.
N. S.: Der Ausstellungsraum spielt also bei deinen Arbeiten von Anfang an
eine sehr wichtige Rolle, weil deine Installationen sehr oft auf die
Gegebenheiten des Raumes eingehen; in Essen findet die Ausstellung im
RWE-Turm in einem sehr markanten und schwierigen architektonischen
Rahmen statt. Ist die Architektur des Raumes in diesem Sinne für dich
eine Herausforderung? Und wie waren deine Gefühle oder Gedanken, nachdem
wir die Räume das erste Mal zusammen besichtigt haben?
U. K.: Ja, das war auf jeden Fall eine Herausforderung für mich. Der
allererste Eindruck war: gigantisch; eine monumentale Selbstdarstellung
der Architektur, ein Turm, der auf Stelzen steht; die Pfeiler tragen
die ganze Last, die Wände sind im Prinzip nur eine Haut. Hier wird
demonstriert: schaut her, was die Technik heute kann. Die Architektur
präsentiert sich mit der Eleganz und Coolness, mit der ein Unternehmen
wie RWE in der Öffentlichkeit erscheinen möchte.
Die räumliche Struktur, die Form des Raumes, ist natürlich auch sehr
ungewöhnlich. Was mich aber vor allem interessierte, war die Situation
in der Empfangshalle. Mir fiel beim ersten Besuch auf, dass die Leute
den eigentlichen Ausstellungsraum gar nicht nutzen, sondern
hereinkommen, zum Empfang gehen und dann direkt auf den Aufzug zugehen;
dass der halbe Raum des Erdgeschosses ziemlich undefiniert ist. Man
sieht dort zwar ab und zu jemanden auf einem Sofa sitzen, aber
eigentlich passiert da nichts. Im Grunde wird der halbe Raum nur als
Durchgang genutzt. Das wollte ich mit meiner Arbeit durchbrechen.
N. S.: Als ich deine Skizzen sah, wurde mir klar, dass du hier nicht mit
der Architektur in Konkurrenz treten wolltest. Ich erkannte anhand
deiner Konzepte eher einen Dialog mit der Architektur, weil du diese auf
fünf verschiedene Werkgruppen im Raum verteilt hast, die sowohl nach
innen als auch nach außen gerückt sind. Kann man da von einer
kongenialen Ergänzung sprechen? Du fügst der Architektur hinzu, was sie
nicht hat und umgekehrt erhält deine Arbeit von der Architektur etwas.
U. K.: Ja, das kann man so sehen. Ich will nicht in Konkurrenz zur Architektur treten, denn ich denke, das macht keinen Sinn.
N. S.: Bei der vierten Arbeit, der “Zelle”, die für den Außenraum gedacht
ist, hast du das letzte Mal ausdrücklich den Wunsch geäußert, deiner
Arbeit auf jeden Fall eine Anbindung an die Architektur zu geben. Je
mehr Einblick ich in deine Skizzen bekam, je mehr ich darüber
reflektierte, desto stärker wurde mir klar, dass ein sehr harmonischer
Dialog zustande gekommen ist. Jede Position, die der Architektur und die
des Kunstwerks, behält dabei ihre Definition von Zweck und Ästhetik. Es
geht meiner Ansicht nach deutlich daraus hervor, dass du für deine
Arbeit diesen schwierigen architektonischen Rahmen als Reflexionsfläche
nutzt.
U. K.: Diese Formulierung finde ich sehr gut.
N. S.: Für mich ist die Eingangshalle des RWE-Turms auch der Ort der
Begegnung, wo MitarbeiterInnen dem Gast begegnen. Wenn ich an deine
Arbeiten – vom Kinderlaufstall bis zum Teppich im untersten Geschoss –
denke, wird deutlich, dass du eben diesen Ort der Begegnung als
Hintergrund für dein Projekt ausgewählt hast.
U. K.: Auf jeden Fall. Ich beziehe meine Ideen oft aus dem Kontext des
Raumes oder der Situation des Ortes. Bei diesem Projekt ist es die
Situation einer Empfangshalle eines großen Konzerns, der hier auch seine
Verwaltungszentrale hat. Die inneren Organe kann man ja auch so sehen,
dass die Verwaltungszentrale eine Art inneres Organ des Konzerns
darstellt. Da passieren Dinge, die nicht nach außen in die
Öffentlichkeit dringen, die aber den ganzen Organismus am Leben
erhalten.
N. S.: Du siehst diesen Konzern mit all seinen Mitarbeitern und
Angestellten wie einen “Körper”, einen Organismus, der, wie der
menschliche, mittels seiner Organe arbeitet. Diese inneren Organe, die
vielleicht auf den ersten Blick mit der Arbeit, die dort gemacht wird,
nicht sehr viel zu tun haben, geben durch die Transformation, die sie
durch deine Installation erfahren, dem Ganzen eine andere Präsenz. Wenn
ich an deine Arbeit “Laufstall” denke, dessen Form ja an die eines
Gehirns erinnert, kann ich mir vorstellen, warum du diese Arbeit hier
präsentierst. Aber warum zeigst du an dieser Stelle die
“Verdauungsorgane”?
U. K.: Ich habe lange nach einem “passenden” Organ als Ergänzung zum
Gehirn gesucht, das als Objekt von Anfang an feststand. Herz und Lunge
schienen mir kein gutes Gegengewicht zu sein, der Magen allein wäre mir
zu einseitig. Dann bin ich auf den Verdauungstrakt gekommen, ohne das
zunächst begründen zu können. Beide, Gehirn und Verdauungstrakt,
produzieren etwas, mit dem Unterschied, dass das eine Produkt
gesellschaftlich hoch anerkannt ist, das andere tabuisiert. Nur Kinder,
die gesellschaftliche und kulturelle Normen noch nicht kennen, machen
diesen Unterschied nicht.
Auf formaler Ebene gibt es überraschend viele Ähnlichkeiten: die
endlosen Windungen im Gehirn wiederholen sich gewissermaßen im Darm. Das
sind meterlange Stränge, die sich da auf engem Raum zusammenwinden.
Während jedoch im Gehirn, vereinfacht gesagt, “die Gedanken” als
chemische Prozesse ablaufen und komplizierte, verschlungene Wege nehmen,
geschieht dasselbe im Verdauungstrakt auf konkreterer, stofflicher
Ebene. Es gibt übrigens Wissenschaftler, die den Darm als “zweites
Gehirn” bezeichnen und zwar deshalb, weil der Darm sehr komplexe
Funktionen unabhängig vom Gehirn ausübt.
N. S.: Ich würde nun gerne auf die Stofflichkeit deiner Arbeiten
eingehen. Sie wird ja durch deine Installationen im RWE-Turm in all
ihren Facetten verdeutlicht. Die Palette der verwendeten Materialien
reicht von Schaumstoff über Holz bis zu Seilen. Vor allem aber
verwendest du Textilien. Gibt es Kriterien, nach denen du Textilien und
Stoffe auswählst? Woher kommt diese leitmotivartige Erscheinung von
Textilien in deiner Arbeit? Ist es eine leichter formbare Materie?
U. K.: Es geht ja nicht so sehr darum, ob ein Material leichter zu
verarbeiten oder zu formen ist, sondern ob es das richtige ist, in Bezug
auf die Vorstellung, die man von der Arbeit hat, auch in Bezug auf den
Ausstellungsraum. Ich habe die Farben und Muster danach ausgesucht,
wobei ich sagen muss, dass ich zum ersten Mal gemusterte Stoffe in
dieser Größenordnung verwende.
N. S.: Wobei du früher immer monochrome Stoffe verwendet hast.
U. K.: Ich habe sonst immer einfarbige Stoffe benutzt und eigentlich auch meistens Weiß oder Rot.
N. S.: Hat das vielleicht etwas damit zu tun, dass du jetzt ein Kind
hast, und mit diesen “babytypischen” Farben und Stoffen in letzter Zeit
öfter in Berührung gekommen bist?
U. K.: Vielleicht ja. Es ist immer schwer zu entscheiden, wie solche
Ideen zustande kommen. Ich wollte vor allem der strengen Atmosphäre und
der reduzierten Farbigkeit des Raumes etwas entgegensetzen. Die
Konzeption meiner Ausstellung arbeitet ja stark mit Gegensätzen in Bezug
auf Farben, Formen und auch auf Themen. Ich denke auch, es spielt eine
humorvolle Komponente hinein, jedenfalls kann man die bunten Muster der
Stoffe so interpretieren.
Allerdings ist für mich der Begriff “Textilkunst” ziemlich negativ
besetzt. Stoffe interessieren mich eigentlich nur in großen Mengen, als
große Flächen. Meine bisherigen Stoffarbeiten sind ja im Grunde
Architekturen; Räume aus Stoff.
N. S.: Aber diese waren bisher bewusst in monochromen Stoffarben
gehalten, entweder Weiß oder erdfarben, Dunkelgrün oder ähnliches, also
primär zurückhaltende Farben. Wir arbeiteten auch anläßlich der
Ausstellung „Skulpturale Ideen“ zusammen. Ich denke, dort hat der
farbige Stoff zum ersten Mal bei deiner Arbeit eine andere als die in
der “Textilkunst” übliche Stellung eingenommen. Die von dir ausgewählten
Textilfarben lösen starke Gefühle aus; wenn sie Rot sind, erzeugen sie
Wärme oder Energie und es entsteht eine Art emotionaler Fläche.
Bei der Arbeit “Vorhänge des Vergessens” zum Beispiel konnte man das Rot
in zweierlei Beziehung sehen: zum Einen als die Farbe des Blutes und
zum Anderen als die Farbe des Gehirns, welches ja auch solch ein
Weiß-Rot hat. Diese Symbolik der Farben spielt in deiner Arbeit eine
grosse Rolle, denn du setzt sie dort stets, bedingt durch den Kontext
der Arbeit, auf einer anderen Ebene ein.
U. K.: Natürlich gibt es eine emotionale Komponente bei der Farbe. Bisher
habe ich mich da auf relativ neutralem Boden bewegt, indem ich oft
weiße oder naturfarbene Stoffe benutzt habe, die sich der Architektur
anpassen und keine starke Eigenfarbigkeit hereinbringen. Farbe bringt
immer eine zusätzliche Ebene hinein. Speziell bei Stoffen kommen schnell
Assoziationen auf: Babymode in rosa und hellblau ist nur ein Beispiel.
Modische Aspekte sind auch wichtig, das fängt ja schon beim Angebot der
Stoffe an. Ich will das Material, mit dem ich arbeite, bewältigen. Es
soll nicht von meiner Idee ablenken, sondern eine neue Einheit bilden.
Die Wahl der Farben und der Stoffe hat auch mit der Thematik der Organe
zu tun. Verglichen mit den früheren genähten Räumen, kommen die Themen
jetzt mehr aus dem Körperzusammenhang. Da sind ja schon Bilder da,
Farben und Formen, Assoziationen, die ich nicht einfach übernehmen,
sondern selbst gestalten will. Aber das, was schon beim Betrachter im
Kopf vorhanden ist, muss ich auch einbeziehen.
N. S.:Du willst anhand dieser mehrteiligen Werkgruppe dem Betrachter
verschiedene Seh- und Interpretationsweisen näherbringen. Die Arbeiten
des Installationsprojektes entziehen sich der zentralen Perspektive, dem
“normalen” Sehen. Ich denke hierbei z.B. an die Arbeit an der Decke,
bei welcher du durch die Positionierung eines Seils sehr hoch oberhalb
des Bodens den Blick des Betrachters in die Höhe und ihn selbst in die
Perspektivhaltung eines Frosches zwingst. Oder ein anderes Beispiel,
der “Teppich”: man nimmt ihn unter Umständen erst dann wahr, wenn man
ganz nah an ihm oder direkt auf ihm steht. Meiner Ansicht nach sind
diese Seherfahrungen ein wichtiger Aspekt bei deiner künstlerischen
Untersuchung des Raumes, denn deine Arbeit durchbricht das Sehspektrum
des durchschnittlichen Besuchers und geht darüber hinaus. Zwar bietet
die Architektur einen gewissen Rahmen, aber deine Werke vermitteln durch
die veränderte Betrachtungsposition ein anderes, schwer beschreibbares
Seherlebnis.
U. K.: Ja, das ist natürlich auch meine Absicht. Die Architektur und den
Raum in anderer Weise fortzuführen, so dass man bewußt nach oben sieht
und eine Verbindung zieht vom vorderen Bereich über die Schleuse in der
Mitte in den hinteren Bereich. Meine Arbeit soll die beiden Bereiche
miteinander verbinden und die Isolierung des “Ausstellungstraktes”
durchbrechen. Es ist eine Arbeit, die eine Verbindungsfunktion hat, auch
nach außerhalb, wenn man die Linie gedanklich weiterziehen würde. Den
Teppich werde ich so platzieren, dass man ihn auch von oben sieht, dann
entsteht eine Verbindung nach unten in die Vertikale.
Noch einmal zu Deiner Frage, ob die Arbeiten auch einzeln oder nur in
der Gruppe funktionieren: man kann sie zwar unabhängig voneinander
sehen, aber im Zusammenhang ergeben sich noch zusätzliche Aspekte. Der
Laufstall als Hirn und die Sitzlandschaft in Form des Verdauungstraktes
beziehen sich zum Beispiel aufeinander. Den Verdauungstrakt würde man ja
spontan eher den Kleinkindern zuordnen, das Gehirn den Erwachsenen. In
meinen Arbeiten ist es aber genau umgekehrt.
N. S.: Das ist eine interessante Interpretation, denn kleine Kinder tragen die Idee der Zukunft mit sich.
U. K.: Es gibt verschiedene Erklärungsmuster; gerade bei Kindern ist das
Gehirn besonders leistungsfähig, nie wieder später im Leben lernen sie
so schnell. Das macht natürlich auch Sinn, aber es gibt diese
Überkreuzbeziehung auch in dieser Konstellation bei den Arbeiten mit der
Sitzlandschaft und dem Laufstall. Insgesamt würde ich sagen, dass die
Arbeiten alle auch autonom, als einzelne unabhängig voneinander
funktionieren. Aber für diesen Raum sind sie als Gruppe und im
Zusammenspiel konzipiert.
Diese Idee ist mir auch wichtig: das ganze Gebäude ist wie ein
Lebewesen. Diese Idee, glaube ich, wird entsprechend deutlicher, wenn
mehrere Arbeiten zusammenkommen.
N. S.: Vielen Dank für dieses Gespräch.
Im magischen Garten der Bildhauerei
TEXTE
Anne Rodler, 2009
Im magischen Garten der Bildhauerei.
Zum künstlerischen Werk von Ulrike Kessl.
Es ist ein ständiges Ausloten des Verhältnisses zwischen Mensch und
Raum, zwischen Raum und Körper, das im Werk von Ulrike Kessl erfahrbar
ist. Wie ein Puls, wie ein lebendig schlagendes Herz spürt man diese
Idee. Und so schafft die Künstlerin mit ihren organischen Objekten einen
ganz besonderen, beziehungsreichen Kosmos: Ihre Objekte greifen in
vorhandene Räume ein, erforschen sie und können diese in das Innere
eines Organismus verwandeln. Demgegenüber stehen bis in den kleinsten
Aufbau von Menschen oder Pflanzen vordringende Arbeiten, anatomische
Studien, zeichnerische, fotografische und textile Werke, die die
Feingliedrigkeit von Körperteilen und deren inneres Wesen untersuchen.
Ob Gewebe- oder Zellstruktur von Lebewesen, Raumpläne oder Bausubstanzen
eines Gebäudes, stets ist es das Interesse am Anatomischen und
Architektonischen, das die Künstlerin voranstellt.
Dieser
Katalog zeigt Ulrike Kessls Objekte und Installationen der Jahre 2001
bis 2009 im Dialog mit erstmals publizierten, ausgewählten Zeichnungen
aus der Werkgruppe “Organgarten” (2003). Ein Garten assoziiert die von
Menschenhand gestaltete Natur. Als Ort der gezähmten Pflanzen dient er
dem Rückzug, der menschlichen Sinnenfreude, dem Pausieren und der
beobachtenden Kontemplation. Im Garten der Organe präsentiert sich die
Natur in einer wunderbar gezeichneten Schönheit. Doch trügt der
studienartige, objektive Schein der Natürlichkeit, da die Pflanzen mit
menschlichen Organen zu phantastischen Gebilden zusammenwachsen. Ulrike
Kessl spielt hier auf die biologische Forschung der Genmanipulation und
darüber hinaus auf das menschliche Bestreben, die Natur zu beherrschen
und zu steuern, an. Gleichzeitig erinnert die Künstlerin an
mittelalterliche Vorstellungen, nach denen von formalen Analogien
zwischen Pflanzen und menschlichen Körperteilen auf Heilwirkungen
geschlossen wurde. In ihrer Zauberhaftigkeit verweisen diese Kreaturen
ins Reich des Magischen und Surrealen.
An die schöpferische
Imagination und Vorstellungsgabe knüpft das raumgreifende Objekt „
“Laufstall” (2001) an, dessen Form den beiden menschlichen Gehirnhälften
entspricht und das für Kleinkinder innerhalb einer Ausstellung zur
begehbaren Skulptur wird. Materielle Erfahrung, geistige und körperliche
Bewegung sind so der visuellen Darstellung von Nervenbahnen und
Speicherkammern des Gehirns gegenübergestellt. Als interaktives und
haptisch erfahrbares Objekt entstand ebenso die Sitzgruppe “Polströ”
(2001), die einen überdimensionalen Verdauungstrakt veranschaulicht.
Die fühlbare Oberfläche und die verborgene innere Struktur, Haut,
Organe und Skelett von Lebewesen und Dingen führt Ulrike Kessl immer
wieder in unterschiedlichen Kombinationen zusammen. In ihrer
künstlerischen Bildsprache setzt sie dies mittels verschiedenster
Objektcollagen aus verfremdeten Fundstücken, Stoffen und
Kleidungsstücken um. Aus Tüchern baut sie Räume, aus Kleidern Körper.
Über Luftballons geformte Nylonstrümpfe sind so das Ausgangsmaterial für
Objekte, die zunächst umgedrehte weibliche Unterkörper ergeben. Ulrike
Kessl bildet aus ihnen eine Gruppe märchenhafter, farbig leuchtender
Wesen mit dem Titel „Feerinden“ (2008/ 2009), die erneut nach dem
Inneren und Äußeren fragen. Stabilität und Fragilität, Hülle und Volumen
hinterfragt auch das Werk “Rocksäulen” (2003). Untereinander befestigte
Röcke bilden lange, den Raum trennende Säulen. Sie zitieren
Architekturelemente, deren tragende Funktion jedoch nicht erfüllt wird.
Die
Verwendung von Textilien zieht sich wie ein Faden durch das Repertoire
der Bildhauerin. Diese dienen ihr als form- und farbgebendes Material
und werden gleichzeitig zum “Stoff” des künstlerischen Experimentierens.
Darüber hinaus werden textile Techniken auf andere Materialien
übertragen, wie es in dem Vorhang aus Einladungskarten (2006) greifbar
wird. Postkarten wurden hier zerschnitten, vermischt und wieder
zusammengenäht. Als innenarchitektonisches Element verhängte dieser
Vorhang den Eingang des Goethe-Instituts in Rabat, auf den er sich
direkt bezog. Die Besucher mussten ihn passieren, um in die Ausstellung
und die Institutsräume zu gelangen, wobei sie aber auch wiederum
einzelne Informationen der Karten aus der Nähe lesen konnten.
Es
zeigt sich die stets präsente Verbindung von Zeichnungen, Fotografien
und Plänen mit plastischen Körpern und architektonischen Gegebenheiten –
in Wechselwirkungen wird das Flächige ins Plastische, das
Zweidimensionale ins Dreidimensionale geführt.
Anne Rodler